Wassermans Roboter
jedesmal, wenn er an sie dachte. Martha war auch tot. Hart, hart. Erst Martha und jetzt sein bester Freund. Schon zwei, um die er weinen mußte. Er begann zu schluchzen; die Gefühlsaufwallung wurde zu stark, er setzte sich an den kleinen Tisch. Im Sitzen ging es immer besser.
Er öffnete das Paket auf dem Tisch. Leutold hatte es ihm vermacht.
Das Radio, stand im Testament (auf deutsch, was in amtlichen Dokumenten eigentlich verboten war), das Radio soll meinem Freund Berger gehören. Wenn er vor mir stirbt, soll es vernichtet werden. Seltsame Formulierung. Wenn er, Berger, vor Leutold starb, dann hätte Leutold das Testament doch ändern können. Vielleicht dachte er, daß er, Leutold, dazu nicht mehr in der Lage sein würde; das hieß, er mußte die Möglichkeit einkalkuliert haben, ins Asyl zu kommen; noch vor Bergers Tod. Das hieß ferner, er mußte angenommen haben, daß er im Asyl wohl keine Möglichkeit mehr haben würde, ein Testament zu verfassen, noch sonst etwas Schriftliches. Wie schlau von Leutold, wie überlegt! Berger bewunderte ihn. Wieso hatte ein Mann, der solcher Vorausschau fähig war, mit diesen lächerlichen Sprachen Schwierigkeiten gehabt? Es war ein Mirakel.
Das Radio erwies sich als Museumsstück, mindestens 70 Jahre alt. Berger war gerührt; neue Tränen kamen hoch. Ein Schatz, für den Liebhaberpreise gezahlt wurden. Ein Röhrenradio. Berger kannte Leute mit Verbindungen zu Sammlern; vielleicht war es günstiger, das Ding auseinanderzunehmen und die Teile einzeln zu verkaufen. Der Gesamtpreis konnte durchaus höher sein. Berger würde es genau kalkulieren.
»Was ist denn das für ein Ding?«
Markus kam ins Zimmer. Berger ärgerte sich. Der Junge war ein Schleicher. Nie war man sicher, daß er nicht plötzlich neben einem stand.
»Kannst du nicht klopfen, verdammt noch mal!«
»Hab’ ich doch, Opa!«
Berger murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und nahm die Rückwand von dem Gehäuse ab. Seine Wut verschwand schnell. Er war kein zorniger Mensch.
Markus trat neben seinen Großvater und starrte in das Innere des Radios. Er war 15 und interessierte sich für alles, was sein Großvater tat oder sagte; er wußte selbst nicht genau, warum. Der Großvater machte Spaß, unfreiwillig, aber doch. Seine Eltern erschienen ihm langweilig dagegen, wie tot. Die Ansichten des Großvaters waren verschroben und reaktionär; es war nie vorhersehbar, was er als nächstes von sich geben würde. Viel besser als Video. Bei Video konnte jedes kleine Kind sagen, wie es weiterging. Deshalb ging Markus zum Großvater, so oft er konnte, obwohl ihn der nicht besonders zu mögen schien. Es gab deswegen oft Auseinandersetzungen mit dem Dozenten.
Der fürchtete, sein Sohn würde genauso werden wie der Großvater; Markus fand das unheimlich lucky. Nur hatte er bis jetzt noch keine Anzeichen bei sich bemerkt, die darauf hindeuteten.
»Das sind Röhren, siehst du? Weißt du überhaupt, was Röhren sind? Lernt ihr das noch in der Schule? Wahrscheinlich nicht. Sollte mich wundern.«
Großvater stellte Fragen, auf die er gar keine Antwort erwartete – er beantwortete sie gleich selbst. Also waren es gar keine richtigen Fragen. Aber andererseits waren es ganz eindeutig Fragen. Das seien ›rhetorische Fragen‹, hatte ihm seine Mutter erklärt und er solle dem Dozenten nichts davon sagen. Markus kannte sonst keinen Menschen, der ›rhetorische Fragen‹ stellte. Selber konnte er sich keine solchen Fragen ausdenken, so oft er es auch versuchte. Es war das Einzige, was er nicht lernen konnte. Sonst lernte er alles, was sie von ihm verlangten, mit großem Gleichmut. Es war einfach wie Luftholen.
»So was wird ja heute gar nicht mehr erzeugt, da bin ich mir sicher«, sagte der Großvater. »Hast du eine Vorstellung, was so eine Röhre heute kostet? 1000 RE’s, sag’ ich dir!«
Beim ›kostet‹ senkte der Großvater die Stimme und zischte das ›s‹ speichelumsäumt heraus, wie man es bei besonders unanständigen Wörtern tut. ›Kostet‹ war auch ein unanständiges Wort. Großvater wußte viele solcher Wörter. ›Unanständig‹ war selbst ein solches Wort, das Markus nie verwendete, wenn er mit anderen sprach. ›Unanständig‹ war eigentlich gar nicht unanständig, es war ein Wort, das es nicht gab. Es stand nicht im Comp-File, es stand nicht im Soz-File, es stand nirgends. Es gab dieses Wort nicht. Und doch war es vorhanden im Gedächtnis seines Großvaters. Es gab noch andere. ›Hiobsbotschaft‹
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