Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wassermans Roboter

Wassermans Roboter

Titel: Wassermans Roboter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
Vom Netzwerk:
etwas kaputt gegangen. Leutold lag auf dem Gesicht. Hinten auf der Hose ein großer, dunkler Fleck. Scheiße, dachte Berger. Er hat sich eingeschissen, wahrhaftig, mitten im Unterricht. Und da verstand er, daß Leutold starb. Die anderen begriffen es später, als schon alles herumrannte, kreischte, schrie, weinte, lamentierte.
    Als Schmarr versuchte das herzustellen, was er ›sinnvolle Ordnung‹ nannte. Keiner traute sich, Leutold anzufassen. Berger auch nicht. Wir sollten ihn beatmen, dachte er, Herzmassage; sonst machen sie nachher wieder dieses Akzeptanz-Theater und hauen uns den Soz-Level runter. Aber er tat nichts. Als die Sanitäter kamen und Leutold mühselig auf die Bahre hievten, stöhnte Leutold nicht mehr. Es floß nur eine dünne, schwärzliche Brühe aus seinem Mund auf die Schuhe des einen Sanitäters. Der fluchte laut. Berger ärgerte sich. Es war doch die Aufgabe von dem Mann, sich um Sterbende zu kümmern. Wahrscheinlich konnte er nur ein paar Brocken Universal und sonst nichts. Ein Volltrottel. War ja bekannt, daß sich diese Subjekte zu den Hilfsdiensten meldeten, um sich um die Kurse rumzudrücken.
    Bauernschlau, frech und gemein. – ›Morak.‹ Wieder diese Endung ›-ak‹. ›Gestorben‹, ›eine Handlung, die zwar in der Vergangenheit beendet wurde, deren Wirkung aber in der Gegenwart andauert‹. Stimmt. Gab gar kein besseres Beispiel. Nicht nur in der Gegenwart andauert. Dauert für alle Zukunft. Oder hieß es ›mora-ka‹? ›Ist gestorben worden?‹ Nein, das war Variante 1. In der 2 kein Unterschied zwischen aktiv und passiv. ›-aka‹ war die weibliche Endung. Ganz logisch eigentlich. Martha fiel ihm ein, und er begann zu weinen.
     
    Über die Innenfläche des Fensters kroch eine Fliege. Dann entdeckte Berger noch eine. Und dann noch eine dritte auf dem Lampenschirm. Berger erwog, sie alle totzuschlagen. Er ließ es sein. Die Fliegen boten eine günstige Gelegenheit, den Dozenten auf die Undichtigkeiten der Komposttoilette aufmerksam zu machen. Der Dozent haßte dieses Thema. Vor allem, weil er insgeheim die Komposttoilette haßte. Sie sei absolut geruchdicht, sagten die Öko-Ings. Sie war es nicht, natürlich. Sie war falsch konstruiert. Berger bezweifelte, ob man so etwas überhaupt richtig konstruieren konnte. Der Dozent bezweifelte es auch, obwohl der von technischen Dingen nicht viel verstand. Aber er konnte nichts dagegen sagen. Er hätte sonst das Haus in dieser Siedlung nicht gekriegt. Die Siedlung hatte den Öko-Level 7, fast die höchste Stufe. Ein Umzug auf Stufe 6 bedeutete Soz-Abstieg; wenn es auch nicht fein war, davon zu sprechen. Und Probleme: Stufe 6 war für einen Sprachdozenten unannehmbar. In dieser Siedlung wohnten sonst fast nur andere Sprachdozenten. Die achteten sich gegenseitig. In Stufe 6 wäre das nicht mehr der Fall – lauter Passiv Tätige, die weder Plansprachen mochten, noch Umbau, noch Ökophilie. Und die Dozenten von Plansprachen mochten sie ganz besonders nicht. Sie würden Steine in die Verglasung werfen.
    Eine vierte Fliege. Berger überlegte, hinter dem Bett oder an sonst einem versteckten Ort ein Löffelchen Honig zu verschmieren als Lockmittel. Ein Löffelchen Scheiße wäre effektiver, war aber leicht zu orten. Seit dem Einzug in das Haus führte er mit dem Dozenten einen Kleinkrieg wegen der Toilette. Er warf absichtlich Sachen rein, die nicht verrotten konnten. Dosen und so. Letztes Jahr hatte er einen Eimer konzentrierte Natronlauge reingeschüttet. Die Bakterien mußten daraufhin ihre segensreiche Zersetzungstätigkeit schlagartig einstellen. Alle krepiert. Zwei Wochen unerträglicher Gestank; ein paar Leute vom Werk bauten den Apparat aus. Berger lächelte. In der jüngeren Vergangenheit war das seine schönste Erinnerung. Er hätte den Anschlag gern wiederholt. Nicht einmal die Frau war dahintergekommen. Aber Leutold konnte keine Natronlauge mehr auftreiben.
    Mit dem Gedanken an Leutold kamen die Tränen, die er frei über beide Backen rinnen ließ. Er schämte sich nicht deswegen. Er wischte die Tränen auch nicht ab, wenn jemand von der Familie dabei war. Sollten sie es ruhig sehen, die Herzlosen, die niemals weinten. Beim Dozenten wunderte es ihn nicht, da war sowieso alles verloren. Einen weinenden Dozenten konnte man sich nicht vorstellen. Aber die Kälte seiner Tochter beunruhigte und bekümmerte ihn. Woher hatte sie das? Von ihm nicht, und Martha, seine Martha, war eine Seele von Mensch gewesen. Er sah sie deutlich vor sich,

Weitere Kostenlose Bücher