Wassermans Roboter
Ende der Leitung Einfluß nehmen.
»Guten Tag?«
»Christian?«
»Ja?«
»Hier ist Diane – wie geht es dir?«
»Gut, und dir?«
»Viel besser«, doch sie fragte sich insgeheim, ob es tatsächlich noch der Fall war.
»Das freut mich«, und nach einer kurzen Pause, »gibt es dafür einen bestimmten Grund?«
Sie überhörte die Frage, registrierte nur, wie sehr sie der leere Schirm störte. »Warum darf ich dich eigentlich nicht sehen?«
»Es ist eine Schutzmaßnahme.«
»Eine Schutzmaßnahme?«
»Es ist leider schon vorgekommen, daß Anrufer gedroht haben, sich an Mitarbeitern des PHCs zu rächen.«
»Wieso denn das?!«
»Weil sie mit unserer Hilfeleistung unzufrieden waren. Sie meinten, daß wir zu wenig für sie tun würden.«
Sie wollte das Gespräch ein wenig auflockern. »Ich bin auch unzufrieden gewesen.«
»Mit mir?«
»Mit eurer eingemachten Empfangsdame.«
»Eingemachten?«
»Es sollte ein Witz sein, ich meine eure Vorspannkonserve.«
»Leider ist unser Budget zu knapp, um uns eine Live-Ansagerin leisten zu können.«
»Kann ich dich nicht direkt anwählen?«
»Leider nicht.«
Wieder so eine unangenehme Pause, dachte sie. Das Strohfeuer ihrer guten Stimmung erlosch endgültig.
»Warum geht es dir heute besser, Diane?«
»Interessiert es dich wirklich?« Die Bitterkeit in ihrer Frage war eigentlich nicht zu überhören.
»Hast du das Gefühl, es interessiert mich nicht?«
»Nicht wirklich.« Es kam über ihre Lippen, bevor sie es zurückhalten konnte, und es tat ihr leid. »Ich wollte dich nicht verletzen, Christian, aber warum sollte es dich wirklich interessieren, wie es mir geht?«
»Du möchtest, daß mein Gefühl echt ist, aber du befürchtest, daß es unecht sein könnte?«
Die Tür fiel erneut zu. »Es tut mir leid, Christian, ich sehe, daß du versuchst auf mich einzugehen, aber irgendwie ist es nicht die richtige Art – ich meine, vielleicht nicht für mich.«
»Und wie wäre die richtige Art?« Seine Stimme verriet noch immer keine Spur von Gekränktsein oder gar von Verärgerung.
»Kannst du dich überhaupt richtig ärgern?«
»Wäre das wichtig für dich?«
»Mich stört es eben, wenn Menschen ihre Gefühle nicht zeigen.«
»Bei wem stört es dich, Diane?«
»Bei Menschen, die mir etwas bedeuten.«
»Und wer bedeutet dir etwas?«
»Zum Beispiel …«, sie mußte den Kloß erst hinunterschlucken, um weitersprechen zu können, »mein Vater.«
»Willst du mir von ihm erzählen?«
Sie glaubte sich wieder in der Gewalt zu haben. »Du bist auf der falschen Fährte, Christian.« Sie sagte es, wie sie es meinte, ohne jegliche Ironie. »Mein Vater versteckte nie seine Gefühle, weder die schlimmen, noch die schönen, und er spürte sehr genau, wann jemand bereit war, sie anzunehmen. Und er hatte immer Zeit für mich …« Es tat ihr gut, daß Christian schwieg, ihr Zeit ließ. »Einmal, ich war wohl erst vier oder fünf, ein Junge aus der Nachbarschaft, der mein liebster Spielgefährte gewesen war, hatte mir die Freundschaft aufgekündigt, weil er in die Schule gekommen war und deshalb nichts mehr mit so kleinen Mädchen zu tun haben wollte. Ich war verzweifelt nach Hause gerannt und begegnete meinem Vater auf der Straße, als er gerade in ein Taxi steigen wollte. Er ließ seine Aktentasche einfach auf den Boden fallen und nahm mich in die Arme. Ich habe mich nur weinend an ihn gedrückt und kein Wort herausgebracht. Er hat mich ganz ruhig gestreichelt, als hätte er alle Zeit der Welt. Plötzlich rief der ungeduldige Taxifahrer: ›Ich dachte, es wäre so wichtig, daß Sie das Flugzeug noch erreichen!‹ Und da sagte mein Vater: ›Das stimmt‹; und zu mir gewandt: ›Aber jetzt haben wir noch etwas viel Wichtigeres zu tun.‹« Sie konnte nicht mehr weitersprechen.
»Lebt dein Vater noch?«
»Er ist vor elf Jahren gestorben.«
»Ich hätte auch gerne so einen Vater gehabt.«
Aufschluchzend drückte sie den Hörer in die Gabel. Etwas Schöneres hätte er kaum sagen können, nur, war es auch ernst gemeint? Aber vielleicht tat sie ihm unrecht, warum sollte jemand Sozialtechniker werden, wenn er nicht wirkliches Interesse an anderen hätte? Vielleicht beneidete er sie wirklich um ihren Vater?
Sie nahm am Arbeitstisch Platz, unterbrach die Endlosschleife und lud das halbfertige Programm in den Arbeitsspeicher. Die einsetzende innere Verwandlung war ihr noch nie so bewußt geworden: Die Wahrnehmung verengte sich auf das Sehen, und das Sehen selbst auf einen
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