Wassermelone: Roman (German Edition)
sylphidenhaften Aussehen die reinsten Glückspilze.
Was auch immer geschah, nie hatte ich meinen Appetit verloren: weder vor Prüfungen, Vorstellungsgesprächen noch an meinem Hochzeitstag oder bei einer Lebensmittelvergiftung. Höchstens der Tod hätte meiner Fähigkeit Einhalt gebieten können, bei einer Mahlzeit zuzulangen wie ein Scheunendrescher. Wann immer ich schlanken Menschen begegnete, die Dinge sagten wie: »Ach wie dumm von mir, ich vergesse einfach immer zu essen«, sah ich sie mit kaum verhohlenem Staunen und voll Bitterkeit an und kam mir in ihrer Gegenwart unansehnlich, unförmig und dick wie eine Kuh vor. Haben die’s gut, dachte ich, wie kann man vergessen, dass man essen muss? Ich hatte immer Appetit – wie unfein und wie schändlich!
Noch nach dem Jüngsten Gericht, wenn wir alle unsere sterblichen Hüllen abgestreift haben und im Himmel sind, wenn die Zeit aufgehört hat zu existieren, wir alle reine Seelen sind und unser ewiges Leben mit der Betrachtung des Allmächtigen verbringen, werde ich nach wie vor jeden Morgen um sieben meinen Schokoriegel brauchen.
Aber ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass all diese spindeldürren Gestalten das Blaue vom Himmel herunterlogen. In Wirklichkeit stopften sie sich so voll, dass sie anschließend alles wieder erbrechen mussten, nahmen Amphetamine oder ließen sich jedes Wochenende das Fett absaugen.
Jetzt, zum ersten Mal im Leben, hatte ich nicht nur keinen Hunger, sondern war von der Vorstellung, etwas essen zu müssen, geradezu angewidert.
Mahlzeiten waren mir gleich. Sie bedeuteten mir überhaupt nichts. Wenn ich mit siebzehn Jahren so gewesen wäre, hätte ich geglaubt, zu den Auserwählten zu gehören.
Jetzt war ich zu erschöpft und zu unglücklich, als dass es mir irgendetwas bedeutet hätte.
Die Tage schleppten sich dahin. Manchmal stand ich auf und ging mit Kate nach unten, um mir mit Mum eine australische Seifenoper anzusehen. Ich trank mit ihr eine Tasse Tee und kehrte dann in mein Zimmer zurück.
Helen ging mir weiterhin auf die Nerven. Drei Tage nachdem die Gegensprechanlage eingebaut war, kam sie betont leise in mein Zimmer geschlichen. »Ist die eingeschaltet?«, flüsterte sie verschwörerisch und wies auf die Anlage.
»Was?«, fragte ich knurrig und hob den Blick von meiner Illustrierten. »Natürlich nicht. Warum zum Teufel sollte sie eingeschaltet sein? Kate und ich sind hier.«
»Schön«, sagte sie. »Schön, schön.« Dann platzte sie vor Lachen. Mit Tränen in den Augen setzte sie sich auf das Bett. Ich sah sie mit kaum unterdrücktem Abscheu an.
»’tschuldige«, sagte sie, wischte sich die Augen und versuchte, sich zusammenzunehmen. »Ähm, ’tschuldige, ’tschuldige.«
»Was hast du?«, fragte ich, als sich Helen stocksteif hinsetzte.
»Wirst du gleich sehen«, versprach sie. »Aber du musst mucksmäuschenstill sein.«
Sie ging zur Sprechanlage, schaltete sie ein und sagte mit hohler Stimme hinein: »Anna, ooooooh, Aaaaanna.«
Fasziniert sah ich zu ihr hin. »Was zum Teufel treibst du da?«, fragte ich.
»Ruhe«, zischte sie und schaltete das Gerät ab. »Ich verschaffe Anna ein paranormales Erlebnis, verstehst du?«
»Was soll das heißen?«, fragte ich verständnislos.
»Die Weltraum-Adeptin sitzt im Wohnzimmer und ahnt nichts von dieser Sprechanlage. Sie glaubt, dass sie Stimmen hört«, erklärte Helen. »Halt jetzt bitte mal die Klappe.«
Erneut begann sie mit ihrem Singsang. Sie teilte Anna mit, sie sei ihre spirituelle Führerin, und Anna solle besonders nett zu ihrer Schwester Helen sein und ähnlichen Schwachsinn. Eine gute halbe Stunde kniete sie auf dem Fußboden, während sie in die Sprechanlage flüsterte und wimmerte.
Mehrere Tage hindurch kam Helen, kaum dass jemand allein im Wohnzimmer war, nach oben zu mir und verbrachte unendlich viel Zeit damit, den Betreffenden mitzuteilen, sie sei ihr Unterbewusstes, ihr Schutzengel oder was auch immer, und sie müssten besonders nett zu ihrer Schwester/Tochter/ Freundin (Unzutreffendes streichen) Helen sein.
Das tat sie noch lange nachdem jeder wusste, wer hinter dieser körperlosen Stimme steckte, sodass niemand mehr groß darauf achtete.
Ich aber hatte keine Sekunde lang Ruhe. Als die arme Anna die Wahrheit erfuhr, hätte sie das beinahe umgebracht.
Draußen hörte es nicht auf zu schütten. Der Kanal trat über seine Ufer. Straßen waren unpassierbar. Leute ließen das Auto auf überfluteten Wegen stehen. All das hörte ich von anderen, denn
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