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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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warfen. Aber selbst jetzt, da es fünf vor zwölf für sie ist, hat sie sich noch nicht gefügt. Und sie hat die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben. Schließlich ist ja noch Zeit bis drei Uhr am Nachmittag, oder? Vielleicht kommt er durch die Tür gestürmt, wenn sie schon vor dem Altar steht, groß und imponierend, mit sonnengebräuntem Gesicht, einem wilden Blick in den Augen   …
    Doch halt. Wie kann sie auch nur daran denken? Sie hat ihr Wort gegeben, ihr Vater hat ein Kalb und ein Schwein geschlachtet und die Einladungen und die weißen Glacéhandschuhe verschickt, ihre Freunde und Verwandten sind von meilenweit her durch bitterkalten Wind, Eis und Hagel gekommen – wie könnte sie ihnen das Vergnügen stehlen? Nein: Sie sollte sich vorbereiten, endlich aufwachen, den Lauf der Dinge akzeptieren. Ein Mann ist ihr genommen worden, und ein anderer bietet sich statt seiner an. Was macht es schon, daß er nicht perfekt ist. Was macht’s, daß er Segelohren hat, tölpelhaft und unerotischwie ein gerupfter Hahn ist? Er liebt sie, das allein zählt doch. Und er hat ein gutes Herz   …
    Plötzlich reißt sie ein Pfeifen aus ihrer Träumerei: Schrill und lebendig hallt es durch das stille Haus. Die Melodie ist mal laut, dann wieder kaum zu hören, sie ist sich nicht sicher, aber doch – ja, das ist ein Lied, das Mungo ihr mal vorgesungen hat, der Text ist ebenso ein Teil ihrer Erinnerung an ihn wie der Klang seiner Stimme:
     
    Ihr, die ihr mögt in England sein,
    oder seid ihr wohl nur in England gebor’n,
    kommt nie nach Schottland, ein Mädel zu frei’n,
    sonst zieh’n sie euch an den Ohr’n.
     
    Sie werden euch necken und zieh’n übern Tisch
    bis kurz vor dem Hochzeitstag,
    vorsetzen Frösche statt gebratenem Fisch
    und allerlei Schabernack.
     
    Ist es möglich? Mutter Maria, ist es möglich? Immer noch im Schlafrock, springt sie aus dem Bett, ihre Füße haben die Farbe von Orangen aus Valencia, der Puls rast, das Pfeifen wird lauter, ist gleich vor ihrer Tür, o Mungo, Mungo, Mungo, flüstert sie und reißt die Tür in einem Anfall blinder Hoffnung auf – und da ist er – Georgie Gleg. In frischem Leinen, Zylinderhut, Seidenmantel. Sein Blick ist butterweich. «Guten Morgen, Liebes», sagt er und reicht ihr einen Stechpalmenkranz, der die Form eines Herzens hat. «Heute ist unser großer Tag.»
    Die Enttäuschung legt ihr Gesicht in Falten. «D-danke», stammelt sie ein wenig verwirrt und verlegen, sie fühlt sich unwohl in der Rolle des Opferlamms. Als sie nach dem Kranz greift, sticht sie sich in den Daumen. Nahezu gleichzeitig quillt ein Blutströpfchen hervor.
    «O weh!» sagt er und schnappt ihre Hand. «Laß es mich aussaugen.»
    Und da steht sie nun, kommt sich idiotisch vor mit ihren orangen Füßen und dem verknitterten Schlafrock, während das Wasser in den Regenrinnen gurgelt und ihr zukünftiger Gemahl sich über sie beugt und an ihrem Daumen lutscht wie ein Baby an der Mutterbrust.
     
    Zehn Minuten später, die Tür ist wieder zu und verriegelt, geht sie auf Zehenspitzen durch das Zimmer und stopft ihre Sachen in einen schwarzen Lederbeutel. Ihr Mund ist zusammengekniffen, ihre Bewegungen fließend und verstohlen. Als Katlin sich im Bett wälzt, erstarrt sie mitten im Schritt und wartet einen ewigen, reglosen Moment lang ab, bis der Atem der Freundin wieder in den sanft stöhnenden Rhythmus des Schlafes zurückfindet. Draußen im Flur sucht sie Handschuhe, Hut und Halstuch zusammen. Sie hört ihren Vater und den Onkel wie Sägemühlen im Hinterzimmer schnarchen, als sie leise durch die Küche und zur Tür hinaus schlüpft.
    Ein stetiger, sonorer Regen fällt herab. In der Luft liegt ein Geruch von Reinheit und Erneuerung, als wäre die Erde ganz saubergewaschen. Die glatten, kahlen Stämme über ihr glänzen vor Nässe; in ihrem Rücken versinkt das Haus im Nebel. Gebückt verschwindet sie zwischen den Bäumen wie ein Dieb.

HEIL DEM SIEGREICHEN HELDEN
    Soll er auf die Knie fallen und den Boden küssen? Nein. Zu theatralisch. Aber was das für ein Gefühl ist, die alte Erde wieder zu betreten! Wie berauschend, wieder Englisch zu hören, englische Gesichter, Hüte, Kirchtürme und Schindeldächer zu sehen! Überwältigend! Er kann sich nicht zügeln, er muß einfach   … hinunter auf die Knie   … jetzt gleich   …
    Als der heimgekehrte Entdeckungsreisende sich vorneigt,um den Boden zu küssen – oder vielmehr die glitschigen, unkrautbewachsenen Planken der Docks von Falmouth

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