Wassermusik
Farrington Street. Weihnachten um 6.00 Uhr morgens, ein kalter Nieselregen hängt in der Luft wie ein Waschlappen, der Colonel schnarcht über einer Flasche Brandy. Steifbeinig steigt der Entdeckungsreisende aus, schultert seinen Reisesack und macht sich auf den Weg. Dann jedoch bleibt er plötzlich stehen, wie von einem Strick zurückgehalten. Wohin? Zu seiner Schwester Effie? Aber die schläft jetzt sicher noch. Wenn es zehn oder elf wäre, könnte er einen Wagen zum Soho Square nehmen und Sir Joseph überraschen. Quietschvergnügt bei ihm hineinschlendern, als wäre er nur mal eben um den Block spaziert, und dann die Karte Afrikas neu gestalten. «Tja, Sir, ich bin also zurück. Zurück vom Niger. Habe ihn gesehen, gekostet, bin darin geschwommen.Er ist keine Legende, glauben Sie mir. Großartig. Stellt alles in den Schatten: den Nil, die Themse, den Mississippi … unermeßliche Schätze … an seinen Ufern eine blühende Kultur. Ach so, ja: Er fließt, ganz ohne Zweifel,
nach Osten.
»
Aber um sechs Uhr früh, an einem Feiertag?
Plötzlich hat er die Idee: Effies Mann, Charles Dickson. Der ist zu dieser Zeit bestimmt schon im British Museum und kümmert sich um die Pflanzen da. Es war ja auch Dickson, der das ganze Niger-Unternehmen in die Wege geleitet hat, durch seine botanische Verbindung mit Sir Joseph. Natürlich. Er sollte es also auch als erster erfahren – vor allem, weil er ohnehin als einziger um diese Zeit schon auf sein dürfte. Der Endeckungsreisende wendet seine Schritte zum Museum. Dann aber bleibt er abrupt wieder stehen. Wird er denn am Weihnachtsmorgen auch da sein? Mungo stellt sich seinen Schwager vor, wie er sich im weißen Kittel über getrocknete Blätter beugt; die Gewächshaus-Sammlung düngt, wässert und beschneidet; das Arboretum über den Winter hätschelt; Pollenbeutel und Staubgefäße abknipst; das Gärtnerdasein mit vollen Zügen atmet, bis es in seinen Träumen sprießen muß wie in den dichtesten Regenwäldern des Gambia … er weiß einfach, daß er da sein wird.
Droschken fahren keine, aber es ist nur ein kurzer Fußweg bis High Holborn und von dort in die Great Russell Street zum Montague House, wohin das Museum ein halbes Jahr vor seiner Abreise nach Afrika verlegt worden war. Die ersten schmalen Lichtstreifen ergreifen die Macht am Osthimmel. An den Haustüren hängen Kränze, Tannenzapfen und rote Zierbänder. Der Entdeckungsreisende fühlt sich, als hätte ihm gerade jemand eine Million Pfund geschenkt. Er wirft den Reisesack in die Luft, klatscht zweimal in die Hände und fängt ihn wieder auf, ohne den Laufrhythmus zu verlieren. Dann beginnt er fröhlich zupfeifen, ein Weihnachtslied. Das nasse Kopfsteinpflaster wirft den Klang zurück, er ist guten Mutes, fühlt sich erhaben, heroisch, bis er in eine andere Tonart moduliert, zu «Ihr, die ihr mögt in England sein» übergeht und dabei an Ailie denkt.
Er biegt in die Great Russell Street ein, und vor ihm ragt das düstere, imposante Gebäude auf, ein Monument für die Steinbrucharbeiter. In diesem Augenblick verfärbt sich der Nieselregen weiß, wird zu Schnee. Die nassen Kristalle legen sich auf seine Jacke, wo sie zerschmelzen, seine Stiefelsohlen klacken auf dem Pflaster, Tauben lassen die Flügel rascheln. Alles ist still, die Straßen liegen verlassen da. Es ist, als hielte die ganze Welt den Atem an.
Das Türchen zum Arboretum steht offen. Wie eine Katze schlüpft Mungo hindurch, er zählt auf den Überraschungseffekt. Um eine Ecke, zwischen zwergwüchsigen Obstbäumen hindurch – und was ist das? Dort vorne, über einen mit Sackleinen umhüllten Maulbeerbusch gebückt, steht eine Gestalt in Stoffmantel, Handschuhen, Pelzkappe. Eine dicksonartige Gestalt. «Dix!» Mehr braucht der Entdeckungsreisende nicht zu sagen.
Im Umdrehen sieht Charles Dickson einen Geist mit wolkigem Atem und weißem Schnee auf den Schultern. Eine Erscheinung steht vor ihm, gespenstisch und unvereinbar mit diesem Ort, mit diesem Tag und dieser Stunde. Eine Erscheinung aus der Vergangenheit – ausgemergelt, leichenblaß, das Grau ihrer Augen voller roter Flecken –, ein Wesen, das tot und begraben sein muß, auf das man so lange gehofft hat, daß das Hoffen zur Gewohnheit wurde. Der Botaniker läßt das Sacktuch fallen und wischt sich die Brille am Ärmel ab, bevor er ein breites, feuchtes Grinsen aufbringt. «Bist du’s wirklich», stammelt er, «oder nur ein Untoter, der zurückkommt, um uns
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