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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Deflation, in der sich über den Taumel der Freude und der Lebensbejahung eine neue, heimtückische Empfindung von Verständnislosigkeit und Verletztheit legte, ein schleichendes, hartnäckiges dumpfes Gefühl. Als bekäme man einen Zahn gezogen, immer wieder denselben Zahn,vierundzwanzig Stunden täglich, einen ganzen Monat lang jeden Tag.
    Mungos Brief traf am 29.   Dezember in Selkirk ein. Ailie war nicht zugegen, um ihn anzunehmen. Sie war in Kelso, in einem Backsteinhaus am Ortsrand, wo sie vor dem Kamin saß und ihre Emotionen ebenso genau studierte wie zuvor die Süßwasserpolypen oder Pantoffeltierchen unter der geschliffenen und polierten Linse des Mikroskops. Das Backsteinhaus gehörte Dr.   Dinwoodie. Sie hatte niemanden sonst, an den sie sich hätte wenden können. Ihr Vater, ihre Verwandten, Katlin – sogar Zander war diesmal gegen sie. Dinwoodie war kahl, halb invalide, dreiundsechzig Jahre alt. Sein Hobby war das Ausstopfen von Tieren. Begreifen tu ich’s zwar nicht, hatte er gesagt, als sie vor seiner Tür stand, du bist ja ganz schön wild und garstig, Mädel. Aber klar kannst du hierbleiben. Selbstverständlichkeit. Freu mich ja über jede Gesellschaft.
    Am Abend des Weihnachtstages sandte sie ihrem Vater eine Botschaft durch Dugald Struthers, der gerade nach Selkirk hinüberritt, um über die Feiertage seine Mutter zu besuchen.
Lieber Vater,
schrieb sie
, mach dir keine Sorgen um mich. Ich bin bei Dr.   Dinwoodie und komme mit mir ins reine. Ich konnte es einfach nicht tun, hoffentlich verstehst du mich. Kannst du das?
    Am nächsten Morgen um sechs bummerte der Alte an Dinwoodies Tür. Mit dem Stiefel. Eisregen fiel herab, grau wie ein toter See, Schwarzdrosseln scharrten in der Hecke, die Welt war wie in Glas gegossen. «Dinwoodie!» polterte der Landarzt. «Mach die Tür auf, beim Allmächtigen, mach sofort auf, oder ich werf mich mit der Schulter dagegen!»
    Ailie war oben im Gästezimmer. Sie hatte, zermartert von Schuldgefühlen und Ungewißheit, eine schlaflose Nacht zugebracht. Hatte zu den Deckenbalken hinaufgestarrt, dem Trommeln der Graupeln auf dem Dach zugehört,als der Schnee zu Eisregen wurde, und sich herzenselend gefühlt, sowohl wegen Mungos Abwesenheit als auch wegen der unverzeihlichen Tat, die sie Georgie Gleg und ihrer Familie angetan hatte. Mal dachte sie daran, zurückzugehen und ihn wider Willen doch zu heiraten, und gleich darauf wußte sie, daß das unmöglich war. Beim Morgengrauen, kurz bevor sie einnickte, wurde ihr in einer blitzartigen Intuition plötzlich klar, daß das Warten auf Mungo genauso unmöglich war. Er war verloren. Sie würde ihn niemals wiedersehen.
    Beim Klang der Stimme ihres Vaters fuhr sie zusammen. Sie setzte sich im Bett auf und lauschte, wie er unten schimpfte. «Wo ist sie, diese Dirne?» brüllte er. «Beim Herrgott, ich werd sie am Nacken heimschleppen, werd ihr den frechen Hintern versohlen, bis er Blasen schlägt, mit der Knute prügel ich sie, wenn’s sein muß!» Und dann die ruhige, besänftigende Stimme von Dr.   Dinwoodie, der ihm eine Tasse Tee mit etwas Brandy drin anbot, die ganze Sache ein wenig psychologisch anging, davon sprach, wie sich der Verlust Mungos auf sie ausgewirkt habe, daß es Zeit brauche, bis Wunden verheilten. «Du wirst doch das Mädel nicht zur Heirat zwingen wollen, Jamie.»
    «Zwingen? Ihr Wort hat sie ihm gegeben. Ihr Ehrenwort, Donald. Es bringt mich zum Heulen, wenn ich nur dran denk. Eine Anderson, und bricht ihr feierliches Versprechen. Du solltest mal hören, was die Leute so reden   …»
    Dann wieder Dinwoodie. der etwas über die junge Generation murmelte.
    «Junge Generation am Arsch!» Die Stimme ihres Vaters schoß zurück wie ein rascher Schlagabtausch beim Tennis. «Sie ist dreiundzwanzig Jahre alt. ’ne erwachsene Frau. Und sie sollte heiraten. Also hol sie runter, die Göre – bevor ich die Beherrschung verlier und sie im Bett verdresche, vor den Augen meines besten Freundes!»
    «Jamie, jetzt beruhige dich doch erst mal   …»
    «Den Teufel werd ich – die Zeit ist reif zum Handeln.»
    Man hörte ein Handgemenge und das Klirren von Porzellan. Dinwoodies Stimme, jetzt etwas lauter, zorniger, doch mit einem Beiklang von Resignation: «Schon gut, schon gut, bleib auf dem Teppich – ich hol sie ja.» Und dann die scharrenden Schritte des alten Arztes auf der Treppe.
    Zehn Minuten später stand sie vor dem Kaminfeuer im Wohnzimmer, den Kopf tief über den Tee gesenkt, den ihr Dinwoodie

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