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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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fährt die Kutsche aus London auf ihrer letzten Etappe vor Edinburgh rasselnd in Selkirk ein, hinter sich ein Wirbelwind aus fliegendem Laub, Staub und Pferdehaaren. Blumen blitzen an Haustoren und Mauern, Schafe räumen die Straße und gaffen mit ihren blöden, verdutzten Schafsaugen,Motten und Schmetterlinge flattern auseinander, ein betagter Hofhund hebt den Kopf und läßt ihn dann ohne Willensantrieb klatschend wieder auf die Erde sinken. Für einen Augenblick bleibt die Zeit stehen, wie in der Schwebe gehalten. Die Sonne hängt am Himmel wie eine Laterne, der ätherische Duft von jungem Gras und Apfelblüten narkotisiert die Luft, das Klackern und Surren der Räder übt eine besänftigende, hypnotische Wirkung auf die Passagiere aus.
    Mungo atmet tief ein und reckt den Hals, um aus dem Fenster zu spähen, vorbei an den hochgetürmten Fleischmassen einer Matrone und ihrer vorsintflutlichen, aber noch rüstigen Mutter, die unterwegs nach Edinburgh sind. Was er da in Momentaufnahmen sieht, fasziniert ihn unendlich. Der Wandel in dreieinhalb Jahren, ebenso subtil wie eindrucksvoll – Risse in Fundamenten, neue Mauern und Heuschober, gestutzte Hecken an der Straße, eine verkohlte Scheune. Wie magnetisiert beugt er sich weiter hinaus, von Sehnsucht nach dem Damals ergriffen, während jeder Fleck Land ihm mit stillem Segen entgegenwinkt – das alte Haus der Hoggs zwischen den Birken, das Ratsherren-Tor, das Erbsenbeet der Russells   –, seine Augen werden ganz feucht dabei, er beugt sich hinaus und schaut, bis er buchstäblich auf Matrone und Mutter liegt wie einer dieser Lüstlinge. «Hören Sie mal, was ist denn mit Ihnen los? Ja, Sie, Sir – entfernen Sie sich, oder ich rufe den Kutscher.» Dreieinhalb Jahre.
    Die Stimmung trägt ihn in den Ort hinein, die Häuser sausen vorbei wie im Traum, efeubewachsene Gatter, die kleine MacInnes beugt sich in einer Lichtkaskade von Narzissen und Tulpen über den Brunnen, Bienen summen, Katzen dösen, alles ist so wohlgeordnet und friedlich wie eine Szene von Oliver Goldsmith. Auf einmal aber hetzt eine Hündin undefinierbarer Rasse aus einem offenen Gartentor und wirft sich in einem Tobsuchtsanfall der Kutscheentgegen, kläfft die Räder an, als wären sie mit rohem Fleisch gefüllt. Der Kutscher läßt die Peitsche auf das Tier niedersausen, und es trollt sich winselnd, aber schon ist das Gefährt zu schnell, die Pferde gehen durch, Unheil liegt in der Luft. Das Mißgeschick passiert abrupt wie ein Scherenschnitt: Die Kutsche rast auf einen Reiter zu, dessen Pferd scheut und wirft den Mann ab. Erst sechzig Meter später, fast genau in der Mitte des Dorfplatzes, bekommt der Kutscher sein Gespann wieder unter Kontrolle und bringt es zum Stehen.
    Als erstes tauchen Kinder mit schmutzigen Gesichtern auf, eine ganze Horde kommt aufgeregt angerannt, sie streben herbei wie Fliegen zu einem zerbrochenen Krug Apfelwein. Die nächsten sind die Passanten und die Ladeninhaber, und bald ist so ziemlich jeder da, der in Hörweite war – Kleinbauern, Ammen, Straßenkehrer und Waschfrauen, Flickschuster, Flaneure, Hochwürden MacNibbit. Anscheinend ist der Reiter – ein alter Mann mit Kilt und Wollmütze – mitten in einen Karren voller Forellen und Lachs geflogen, die in nasses Laub gewickelt waren. Der Fischhändler ist außer sich vor Wut und Kummer, der Alte im Kilt flucht wie ein Profi, und die Frau des Fischhändlers stimmt eine kreischende Tirade gegen die astronomisch hohen Steuern, den Kohlepreis und die presbyterianische Kirche an. Es entsteht eine momentane Verwirrung, die von Wutschreien und schrillen Pfiffen angefacht wird, dann fängt ein bärtiger Mann das Pferd beim Zügel ein und beruhigt es, während ein anderer dem Alten aus dem Fischkarren hilft. Jemand lacht. Willie Bailie, betrunken wie üblich, deklamiert Fragmente eines obszönen Limericks. Und dann, es mußte ja so kommen, entdeckt jemand Mungo.
    Es ist der alte Cranstoun, der mit verzückter, gespannter Miene, den Stock in der Hand, herbeigerannt kommt und sich vordrängelt, um zu sehen, was all die Aufregungzu bedeuten hat. In einer Art Dreibein-Kanter humpelt er an der Postkutsche vorbei, doch dann bleibt er plötzlich stocksteif stehen, dreht sich um und glotzt das Gefährt an, als hätte er ein Gespenst gesehen. Einen langen Augenblick steht er so da, seine trüben, alten Augen mustern die Matrone, ihre voluminöse Mutter und den großgewachsenen, blonden Helden, der hinter den beiden aus dem Fenster

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