Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
gerät der Doktor in Bewegung, flitzt im Zimmer herum, schenkt Wein nach, bietet Zigarren, Haferplätzchen, gesalzenen Räucherhering und Kompott an, reißt Bücher aus den Regalen und plappert dauernd von einer Frau aus Abbotsford, an der er einen Fall von Hautausschlag behandelt. «Meerrettich!» brüllt er. «Zu fünf Teilen. Dazu zwei Teile Menstruationsblut und drei Teile Ziegenstein, und die Pusteln gehn weg, wie wenn man sie mit dem Zauberstab berührt hätte. Ich pfeif auf die Homöopathie. Immer beim Altbewährten bleiben, sag ich.» Anderson macht eine Pause und dreht sich zu dem Entdeckungsreisenden um, als sähe er ihn zum erstenmal. «Aber ich glaub, jetzt hast du genug von mir gehört. Gekommen bist du doch wegen meiner Tochter, hab ich recht?»
    Mungo packt die Hand des Arztes. «Ich will sie heiraten.»
    «Heiraten willst du sie?» ruft Dr.   Anderson. «Klar willst du sie heiraten. Hast du das Mädel nich gebeten, siesoll auf dich warten, wie du fort bist, unter den Negern und Hottentotten Leben und Gesundheit riskieren? Und so was kann man ja wohl Verlobung nennen – auch wenn du ihr keinen Ring nich gegeben hast?»
    «Ich – ich hab sogar einen Ring   …», stammelt Mungo und wühlt in der Tasche herum, «äh – hier   …»
    «Na, und heißt Verlobung etwa nich ein feierliches Gelübde vor den Augen des Herrn und aller Menschen, den Bund der Ehe zu schließen?» Aus irgendeinem Grunde hat der Doktor sich in eine Art Wutgebrüll hineingesteigert. Seine letzten Wort hallen durch den Raum wie die Stimme des Jüngsten Gerichts und lösen Sympathieschwingungen in den Gläsern auf der Anrichte aus.
    Ebenso wie der Gefühlsüberschwang erstaunt den Entdeckungsreisenden die gestellte Frage. «Ja, gewiß   …»
    «Hast verflixt recht, Jung», donnert der Doktor, der ganz rote Augen bekommen hat. «Also dann heirate sie!» brüllt er. Dann senkt er abrupt die Lautstärke – zwinkert er ihm zu oder hat er etwas im Auge? – «Aber behandle sie richtig, Jung, behandle sie richtig.» Und plötzlich verschwindet er, die Tür knallt wie ein fernes Gewittergrollen in den Rahmen.
     
    Zehn Minuten später geht die Tür ganz leise wieder auf. Der Entdeckungsreisende hat sich in den großen Sessel am Fenster gesetzt und versucht, den Sinn der esoterischen Zeichnungen zu ergründen, mit denen die Wände tapeziert sind. Ist das Zanders neuer Spleen? fragt er sich gerade, als das gedämpfte Klicken des Türgriffs in sein Nervensystem fährt wie ein plötzlicher Ruck in eine Kirchenglocke. Als Ailie ins Zimmer huscht und behutsam die Tür hinter sich schließt, springt er aus dem Sessel auf. Er weiß nichts zu sagen. Verlegen, ganz im Banne seiner Emotionen, mit seinem vom Debakel des Vortags erschütterten Selbstvertrauen, kann er sie nur angaffen.
    Auch sie sagt nichts. Doch ihre Unterlippe zuckt, und ihre Augen funkeln grün, die Pupillen sind verengt und klein wie Stecknadeln, hart und kalt vor Ärger, Entschlossenheit, Wut. Abgesehen von diesen Augen, den Lippen und der Stupsnase erkennt er sie kaum wieder. Sie ist völlig verändert. Das Mädchen vom Lande in dem weißen Baumwollkleid und den Holzschuhen wirkt jetzt wie eine Dame der Londoner Gesellschaft, sie ist modisch in ein fließendes Gewand aus englischem Samt gekleidet, das an der Taille mit Goldbrokat verziert ist, und der Samt von so kräftigem Dunkelgrün, daß er einen Teppich im Wald abgeben könnte. Das kurze Haar hat sie unter eine dazu passende grüne Kappe gekämmt, ihre Wangen sind gepudert, die Füße stecken in eleganten Hausschuhen. Auf ihrem Unterarm sitzen, kühl und grau wie Regenwolken, die beiden Turteltauben.
    «Also», sagt sie schließlich. «Vater sagte, du wolltest mich sprechen.»
    «Ja, das wollte ich. Ah, will ich», antwortet er, macht einen Schritt auf sie zu und zögert dann, hält das Päckchen vor sich wie ein Sühneopfer. «Ich möchte   –», beginnt er, und die Worte marschieren an seiner Zungenspitze auf, Worte zum Ausdrücken einfacher Gefühle und Erwartungen, Liebe, Ehe, Familie – aber etwas kommt ihm dazwischen, eine schlagartige, lähmende Blockade im Denken, das Ergebnis seiner geschwächten Konstitution, der durchzechten Nacht, der Nervenanspannung, dem plötzlichen Aufstehen vom Sessel. Schon in London hat er ein gutes halbes Dutzend Anfälle gehabt, denn der lange Arm des Malariafluchs griff von der afrikanischen Küste herüber, um ihm die Gedanken zu vernebeln und die Knie weich werden zu lassen.

Weitere Kostenlose Bücher