Wassermusik
Draußen hinter den Spitzenvorhängen antworten ihm Tausende anderer Grillen, und die Nacht bricht in eine ätherische, sirrende Kakophonie aus, wie eine Armee von Kleinkindern, die ihre Rasseln schwenken. Ailie steht, an Armen und Beinen nackt, vom Bett auf, geht geschmeidig zum Toilettentisch hinüber und hebt das Päckchen mit einer Hand an. Schwer. Massiv. Eine ganz merkwürdige Form. Sie möchte es gern aufmachen, aber nein, das geht nicht – Mungo würde ihre Überraschung miterleben wollen. Energisch stellt sie es wieder ab. Und beginnt, sich das Korsett aufzufädeln. Einen Augenblick später gleitet sie aus ihm heraus, wirft die Unterwäsche zu Boden und will gerade zum Schrank gehen, als ihr Blick noch einmal auf das Päckchen fällt. Wieder nimmt sie es in die Hand, stutzt, und dann – ehe sie sich’s versieht – reißt sie das Papier mit den Nägeln auf.
Jetzt stutzt sie nur um so mehr. Offenbar ist es eine Art Schnitzerei – Holz oder Stein. Sie wendet sie mehrmals in der Hand. Glatt und schwarz. So schwarz, daß sie das Licht geradezu aufsaugt und verschluckt. Zuerst erkennt sie überhaupt nichts; als sie dann aber den grob ausgeschnitzten Konturen mit dem Finger nachfährt, weiß sie auf einmal, was es ist: eine Frau. Massig, kraß unproportioniert, der Kopf so winzig wie eine Eichel, schwer herabhängende Zitzen, Bauch und Hinterteil in grausamer, absurderWeise vergrößert. Sie sieht noch näher hin. Die Füße der Frau sind wie Bäume, jeder Zeh ein Stamm. Und was ist das? Verstohlen, schwarz auf schwarz, ringelt sich eine Schlange an ihrem Bein hinauf.
Ailie starrt die Statuette lange an, verliert sich in ihrer klaren, reinen, schimmernden Schwärze, und dann durchläuft sie ein Schauer. Der Nachtwind bläht die Vorhänge. Nackt wie sie ist, stellt sie die Figur auf den Tisch zurück und geht zum Schrank, um sich das Nachthemd überzustreifen. Draußen zirpen die Grillen.
DAS KIND DES JAHRHUNDERTS
Im Sommer 1799, während Napoleon in Ägypten das Feld räumte und Nelson sich in italienische Politik verstrickte, änderte Ailie Anderson ihren Nachnamen in Park. Ein knappes Jahr später – im Juni des Jahres 1800 – kam ihr erstes Kind auf die Welt. Dr. Dinwoodie machte die Entbindung, im Wohnzimmer teilte sich ihr Vater mit Mungo nervös einen halben Liter Whisky. Es war ein Junge. So groß, daß er sie fast auseinanderriß. Sie nannten ihn Thomas.
Mungo hielt das Neugeborene im Arm, dessen Augen waren mit gelbem Schleim verklebt, die Finger schrumplig und knallrot, als hätten sie zehntausend Teller gespült, der Kopf eine nasse Kugel aus Venen und Gewebe. Ailies Vater brachte einen Trinkspruch aus: «Auf das Jahrhundertkind!»
Ailie konnte das Ganze gar nicht recht glauben. Nach all den Jahren der Angst und Ungewißheit, nach all den nicht enden wollenden Tagen und Wochen und Monaten des Wartens war er zurückgekommen. Vor kaum zwei Jahren war er auf ihrer Veranda aufgetaucht, fast wie ein Fremder, und nun war sie Mrs. Mungo Park, die Mutter seines Kindes. Jeden Morgen wachte sie neben ihm auf, jeden Abendsaß sie mit ihm beim Nachtmahl. Er gehörte ihr. Der Gedanke nahm sie ganz in Anspruch, erfüllte sie bis in die Fingerspitzen mit Stolz und Befriedigung. Das Mikroskop setzte Staub an.
Natürlich hatten sie ihre Probleme.
Das erste Jahr nach seiner Rückkehr war zu gleichen Teilen eine Mischung aus Hoffnung und Enttäuschung gewesen. Sechs Monate lang wohnte Mungo in Fowlshiels und arbeitete von morgens bis zum späten Nachmittag an seinem Buch. Dann ritt er nach Selkirk und verbrachte den Abend mit ihr. Sie machten Spaziergänge am Fluß und sahen zu, wie das Laub von den Bäumen fiel, ritten auf einen Besuch zu Katlin Gibbie und wirbelten in wildem Tanz durch ihr Wohnzimmer, machten Lagerfeuer im Wald und grillten sich Lachse am Spieß. Sie lernten sich wieder neu kennen. Es war genauso wie früher gewesen.
Doch dann übte der Sog Afrikas seine Kraft von neuem aus. Zu Weihnachten nahm Mungo die Kutsche nach London und blieb fünfeinhalb Monate fort – in denen er mit Edwards die letzten Korrekturen an den
Reisen ins Innere Afrikas
vornahm. Das Buch erschien im Mai. Es wurde sofort ein überwältigender Erfolg. Eine zweite Auflage wurde bestellt. Dann eine dritte. Überall in Europa entsprangen auf einmal Afrika-Clubs und Afrika-Gesellschaften. Er schrieb Ailie jeden Tag.
Im August heiratete sie einen berühmten Mann. Packte ihre Bücher und das Mikroskop ein und zog
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