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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Einmal hat er bei einer Ansprache vor dem «Chelseaer Verband der Freundinnen der Reitkunst und Geopolitik» den Faden verloren, und Sir Joseph mußte für ihn einspringen und den Vortrag beenden. Ein andermalhat er bei der Baronesse nach einem einzigen Glas Champagner schlappgemacht. Und jetzt findet er sich unbegreiflicherweise auf den Knien wieder, gut sieben Meter von Ailie entfernt, und weiß nicht mehr, was er sagen wollte.
    «Ja?» ermuntert sie ihn mit freundlicherer, erwartungsvoller Miene.
    «Ich, äh   … äh   … ich   …»
    «Ja?» Sie kommt ein paar Schritte näher, beunruhigt über den Gesichtsausdruck des Geliebten – hat sie ihn zu hart angepackt? «Willst du mir das Päckchen da geben?» flüstert sie, als hätte sie ein kleines Kind vor sich. «Ist das Päckchen für mich?»
    Mungo schüttelt den Kopf, um klar denken zu können. Er hockt jetzt auf allen vieren wie ein Hund, der im Regen war. Er mustert das Päckchen, als hätte er es noch nie gesehen. «Ich möchte   … möchte   … äh   … ich will   … äh   …»
    Gütiger Gott, was haben sie mit ihm gemacht? Bestürzt läßt sie den Arm sinken, und die überraschten Tauben fliegen auf, torkeln gegen die Wände, flattern an der Decke herum   … und dann ist sie am Boden neben ihm, stützt seinen Kopf mit den Händen und bemüht sich verzweifelt, seinen Blick zu deuten. «Mungo? Mungo, ist dir nicht gut?»
    Er neigt den Kopf, um ihre Hand zu küssen, und fällt dann der Länge nach auf den Rücken, das Päckchen neben sich. «Ah-äh-äh-äh», sagt er noch, und nun ist sie auf den Beinen, rennt unter lauten Rufen nach ihrem Vater hinaus.
    Im nächsten Moment kommt Dr.   Anderson mit bleichem Gesicht ins Zimmer gestürmt, an seiner Seite der neue Famulus. «Schnell, Kleiner, hol’s Riechsalz! Und bring mir meine Tasche – wir müssen ihn zur Ader lassen!»
    Das Riechsalz bringt den Entdeckungsreisenden wieder zu sich – so weit jedenfalls, daß der Arzt und sein Assistent ihn in den Sessel wuchten und eine Inzision in seinemUnterarm vornehmen können. Ailie steht daneben, dem Anblick durchaus gewachsen, sie beißt die Zähne zusammen und hält die blitzende Porzellanschüssel, während ihr das Blut des Verlobten warm und klebrig durch die Finger sprudelt und Spritzer aufs Kleid macht. Der Famulus, ein Sechzehnjähriger mit unstetem Blick, wendet sich ab, murmelt eine Entschuldigung und kotzt in den Kamin, während der alte Doktor flucht und die Tauben auf dem Kaminsims gurren.
     
    Lange, lange danach steht Ailie in ihrem Zimmer vor dem Spiegel, nimmt die Ohrringe ab, öffnet den Verschluß ihrer Halskette. Es ist drei Uhr morgens vorbei. Mungo schläft tief und fest im Gästezimmer, ein wenig blaß vom Blutverlust und mit leichtem Fieber, aber doch über das Schlimmste hinweg. Sie und Zander haben die halbe Nacht bei ihm gewacht. Als sie zu Bett ging, döste Zander auf seinem harten Holzstuhl, ein Glas Brandy zwischen die Beine geklemmt.
    Sie zieht sich das Kleid über den Kopf und legt es aufs Bett, um die Falten zu glätten. Das getrocknete Blut macht schwarze Flecken auf dem Grün, sie fährt mit der Hand über die Pünktchen und denkt: kaum wahrnehmbar und doch so hartnäckig, und gleichzeitig überlegt sie, wie sie wohl unter dem Mikroskop aussehen. Sie stellt sich vor, wie sie am Fenster sitzt und ein Stück des Kleides festspannt, die Schärfe einstellt und einen Klumpen organischer Substanz sieht – Fasern, die im Gerinnen eine Wunde wie mit einem Fingerdruck zusammenziehen können, Fasern, die sich unzertrennlich mit dem regelmäßigen Webmuster des Stoffes verknüpfen. Getrocknetes Blut. Winzige Teilchen, kaum mehr als Staub – und doch wird der Fleck sich durch viele Male Waschen hindurch halten.
    Am Bettrand, jetzt in der Unterwäsche, hält sie für einen langen, müden Moment inne, ehe sie sich bückt, um Schuhe und Strümpfe auszuziehen. Sie ist ausgelaugt undaufgeregt, erschöpft und erfüllt zugleich. Keine Spielchen, kein Abwarten mehr. Wie ein Schulmädchen hatte sie sich aufgeführt. Ihr Mann ist zurück, und er braucht sie – nichts anderes zählt. Die Schuhe fallen zu Boden, erst der linke, dann der rechte, als plötzlich das Päckchen auf dem Toilettentisch ihre Neugier erregt. Sperrig, ungeschickt eingewickelt. Er hatte es ihr gerade geben wollen, als der Anfall losging. Etwas aus London?
    Motten umflattern die Öllampe. Irgendwo in einer Ecke des Zimmers wetzt sich ein Heimchen die Flügel.

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