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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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großporiger Nase sitzt am Eingang und verteilt Rautenzweige und goldene Ringe, in die Name und Lebensdaten des Verstorbenen graviert sind. Wände, Fenster und Decke sind mit schwarzem Flor ausgeschlagen, und die Kerzen in den Wandleuchtern verleihen dem Haus die Atmosphäre einer Kapelle. Aus dem Nebenzimmer dringen gedämpfte Stimmen und ein steter, sonorer Oberton aus Gewimmer und geschneuzten Nasen. Ohnehin längst in Tränen, nimmt Ned noch einen stärkenden Zug aus seinem Taschentuch und will sich in dem so erreichten Zustand völlig aufgelöster Hysterie gerade in das Totenzimmer stürzen, als er eine Hand auf seinem Arm spürt. Er dreht sich um und erblickt die zuckende Unterlippe einer jungen Frau – oder eher eines Mädchens, sie dürfte kaum siebzehn sein. Das Haar fällt ihr in zwei breiten Zöpfen bis zur Taille, ihre Augen sind wie Seen von Pech, über der linken Brust hat sie ein Muttermal. «Claude?» spricht sie ihn an.
    Wer um Himmels willen ist das? denkt Ned. Die Cousine? Ja, natürlich. Tränenblind ergreift er ihre Hand und schnüffelt: «Cousinchen?» Sie nickt mit glänzenden Augen. Warum nicht gleich hier anfangen, denkt er und steckt das Taschentuch weg. «Ach, Cousinchen!» schluchzt er und vergräbt die Nase in ihrem Haar.
     
    Seit jener chaotischen Nacht auf dem Friedhof von Islington vor dreieinhalb Jahren hat Neds Leben einen so eng umrissenen Lauf genommen wie Regenwasser in einer Abflußrinne – und Konstrukteur dieser Rinne war Dr.   Decius William Delp, Diener der Wissenschaft, Ehegatte, Vater, Erpresser, Leichenschänder   … Delp, der eminente, ehrwürdige Chirurgieprofessor, der mit Mylord ein Gläschen Madeira schlürft, mit Mylady eine Runde Whist spielt und danach seine Helfershelfer losschickt, um ihre Gräber aufzubuddeln, ehe die Körpersäfte sich noch setzen können.
    Unter den Umständen blieb Ned kaum eine Wahl. Er war zum Überleben geboren. Er hatte brutale Schläge, Verstümmelung, Ertrinken, Fischgestank, Newgate, den Galgen überlebt. Auf all das blickte er zurück, als die Pistole in der Trostlosigkeit des Friedhofs von Islington aufblitzte, und ihm wurde klar, daß er so ziemlich alles überleben könnte – den Hexensabbat, eine Revolte der lebenden Toten, den massierten Ansturm von Delp, Banks und Mendoza samt Napoleon obendrein. Außerdem fiel nur ein einziger Schuß, und die Kugel verfehlte ihn um gut zwei Meter, traf aber dafür Quiddle am Oberschenkel und zerschmetterte ihm den Knochen. Das Geschoß traf mit dumpfem Klatschen, einem Ton, wie ihn ein guter Schlachter macht, wenn sein Knüttel jenen sauberen, fließenden, tödlichen Hieb führt, der das Schwein von den Füßen reißt und reglos zu Boden wirft – einem scharfen Ton, der fast augenblicklich in dem dämpfenden Schwamm aus Fleisch und Fett verklang. Es entstand ein Moment der überraschten Stille, als hätte eigentlich keiner die Dinge so auf die Spitze treiben wollen, dann hörte man den Wirbel von Crumps sich entfernenden Schritten und einen weiteren Aufschrei von Boyles. Quiddle gab keinen Laut von sich.
    Neds erster Impuls war Flucht. Vergiß die ganze Sache und renn, bis dir die Lunge platzt – doch dann besann er sich darauf, wie Quiddle zu ihm gehalten hatte, ihn gepflegt, ihm sein Bett überlassen, ihn vor Delp beschützt hatte. «Horace», flüsterte er. «Bist du verletzt?» Keine Antwort. Schwärze. Nichts. Ned tastete sich um das Grab herum und befürchtete das Schlimmste. Wenn Quiddle tot war, würde Delp glatt fünf Leichen erwarten – und seinen ehemaligen Assistenten ebenso zerlegen wie die restliche Ladung, soundso viele Meter Darm, so viele Gramm dieses oder jenes Organs, wie Würste, Kutteln, Preßkopf. Der Gedanke war so bildlich und so fürchterlich, daß Ned fast in Ohnmacht fiel, als Quiddle plötzlich seine Hand packte.
    Quiddles Griff war wie ein Schraubstock. Er sprach mit heiserer Stimme. Keuchend instruierte er Ned im Gebrauch einer Knebelbinde und unterstrich dabei, daß die Zeit dränge – sowohl seinetwegen, als auch weil Crumps Indiskretion recht bald die Gendarmerie herbeiführen würde. Ned begriff rasch. Er band die Wunde ab und zerrte Quiddle zum Fuß der Mauer – hatte aber nicht die Kraft, ihn hinüberzuwuchten. «Warte», flüsterte er und ging auf die Suche nach Boyles.
    Der kauerte hinter einem Grabstein, stöhnte und plapperte vor sich hin. Schon immer hatte er etwas vom Aberglauben des irischen Bauern gehabt, vom Glauben an Elfen und

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