Wassermusik
Vaterland der wenigen wahrhaft heroischen Männer des Zeitalters – Goethes, Schellings, Tiecks, Schillers, der Schlegels. Sie alle waren in Jena versammelt, dem Athen der Moderne. Es war so einfach. Sie würden die Elbe hinauffahren, durch Magdeburg, Halle und Weißenfels, um sich in Jena niederzulassen. Dort könnte er großartige Gedichte schreiben, in denen er Liebe, Tod und Schmerz preisen würde. Er könnte Goethe zum Tee rüberbitten. Schiller einmal sagen, wie falsch es gewesen sei, Karl Moor sich ausliefern zu lassen – viel besser war es doch, als Gesetzloser zu leben, der kleinbürgerlichen Gesellschaft ins Gesicht zu spucken. Schon der Gedanke – er, Adonais Brooks, ein Vertrauter der großen Geister seiner Zeit, Mitgestalter eines neuen Wertmaßstabs für Drama, Dichtung und philosophische Spekulationen, glühend von Szenen voll Schmerz und Verlust, sturmumbrauster Gipfel und Qualen der Jugend, eines Maßstabs der Kunst, der ein fürallemal mit der preziösen Phrasendrescherei aufräumen würde, wie sie in England seit fünfzig Jahren Hochkonjunktur hatte. Brooks spürte, daß er dicht vor einer großen, gefühlsgeladenen Zukunft stand. Dann traf er Herrn von Pölkler.
«Sie müssen unbedingt mit mir hinaus auf meinen Landsitz nach Geesthacht kommen», sagte der Markgraf. «Spannen Sie doch mal eine Zeitlang aus.» Der Deutsche steckte das Lorgnon weg und sah Brooks direkt an, als könnte er durch die blaßblauen Augen und das angedeutete Lächeln in sein Innerstes blicken. «Ich glaube, wir haben eine Menge gemeinsam.»
Während die Wochen vergingen, jeder Tag hoffnungsloser und erniedrigender als der vorige, verlor Fanny jedes Interesse. An allem. Leben, Liebe, Essen, Trinken, Sex, den Funktionen von Körper und Geist. Das einzige, an dem sie Anteil nahm, war das blaue Fläschchen auf ihrem Nachttisch. Laudanum verhalf ihr zu den Träumen, es half vergessen, was mit ihr geschah, wo sie sich befand, wer all diese Leute waren. Sex kam wie eine Lawine über sie, gedämpft durch Wein und Opium. Sex mit Brooks, Pölkler, dem Mädchen mit den Zöpfen, rotgesichtigen Gästen, einem Hund. Arme und Beine flogen durcheinander, Rauch stieg zur Decke auf. Fanny griff nach dem blauen Fläschchen.
Nach drei Monaten in Geesthacht stellte sie fest, daß sie schwanger war. Seltsame Dinge gingen mit ihrem Körper vor. Vor dem Frühstück wurde ihr übel. Ihre Leber wurde empfindlich. Ihr Blut floß nicht mehr in geheimer Übereinkunft mit den Mondzyklen. Sie griff nach Fläschchen und Löffel, doch bevor die Glut in ihr aufstieg, verspürte sie eine Regung in einem tiefen, intuitiven Verlies ihres Gehirns, ein sprießendes, zelluläres Wissen, das sie plötzlich mit aller Wucht der festen Gewißheit packte: Sie trugNeds Kind in sich. Jene verzweifelte letzte Nacht in Newgate kam wie eine blitzartige Offenbarung in ihr Gedächtnis zurück, als Ned in besessener, schonungsloser Raserei in sie eingedrungen war, als könnte er durch das Drängen seiner Liebe irgendwie sein Schicksal überlisten, während sie betrübt dagelegen und ihn wie einen verlorenen Säugling in den Armen gehalten hatte. Sie blickte auf die steinernen Wände ihres Zimmers in Geesthacht. Die Droge war in ihrem Magen, in ihrem Kopf. Sie legte sich in die Kissen zurück und lächelte.
Natürlich war es ein Junge. Geboren am 25. September 1798. In Geesthacht. Herr von Pölkler war hocherfreut. Er sprach von einem Erziehungssystem, das er konzipiert habe, einem System, das die Tabula rasa des kindlichen Gehirns mit präzisen, ordentlichen Strichen beschreiben werde, von einem System, das es dem Jungen gestatten würde, durch den strengen Einsatz von Drill und hartem Training einen intensiv erlebten Zustand der transzendentalen natürlichen Freiheit zu erreichen. Dazu sollte er nur in den einzigen zwei Disziplinen ausgebildet werden, auf die es ankomme: Philosophie und Kampfsport. Dies sei kein gewöhnlicher Junge, also werde er auch keine gewöhnliche Erziehung genießen. Nein, er sei dazu bestimmt, eine neue Art Mensch zu werden, ein Held des kommenden Jahrhunderts, der deutsch-englische Napoleon. Pölkler gab ihm den Namen Karl. Wenn Fanny allein mit ihm war, nannte sie ihn Ned.
Brooks betrachtete das Ganze mit Mißtrauen und Abscheu. Zwar konnte das Kind durchaus von ihm sein, obwohl Pölkler dies nachdrücklich anzweifelte, aber Tatsache war eben, daß es ihm ständig Fannys Gesellschaft vorenthielt. Anfangs hatte ihn die Aussicht
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