Wassermusik
Wachsam und gespannt hat sich die Alte in der Höhle aufgestellt, im Mittelpunkt der pulsierenden Ereignisse, wo sie ihren Zuschauern etwas vorspielt wie eine geistesgestörte Diva in ihrer unseligsten Rolle. Was kommt jetzt? denkt Ned, als sie plötzlich zu ihm herumwirbelt, mit schiefem Lächeln, das tief in den zahnlosen Mund sehen läßt. «Das is schon ’n kleiner Pisser, der da, was? ’n echter Wechselbalch. Könnt ja glatt einer denken, der hätt Angst ham vor seine Mutter, so wie der sich benehmen tut.»
Neds Miene ist verschlossen wie eine Gruft. Irgend etwas kommt ihm hier bekannt vor, etwas Unheilvolles, das er eigentlich gar nicht wissen will. Und doch muß er weiter hinschauen wie hypnotisiert, wider Willen dazu gezwungen, das böse, unerklärliche Drama sich mit seiner eigenen Logik und Energie entfalten zu sehen. Er schaut zu, wie die alte Vettel durch den Raum humpelt und das Kind an sich reißt wie eine gierige Krähe, ihr Triumphschrei ist wie ein Rasiermesser, das über eine Glasscheibe ritzt. Schaut zu, wie sie eine verdorrte Hand unter das Kinn des Jungen klemmt und ihm mit glitzerndem, boshaftem Grinsen das Gesicht zum Lichtschein dreht.
Als der Schein des Feuers auf die gequälten Züge des Jungen fällt, die fettigen Haarsträhnen und das dreckverschmierte Gesicht, seine offenen Wunden am Kinn und den steten, geduldig glotzenden Blick eines eingesperrten Tiers beleuchtet, spürt Ned die Panik in sich aufsteigen. Wie gebannt starrt er den Jungen an, so wie er ein blutendes Denkmal angestarrt hätte oder seinen eigenen, in einen Grabstein gemeißelten Nachruf. Er starrt, wie er nie zuvor gestarrt hat. Boyles dreht sich am Kamin um und gafft ihnan, der einzige Laut im ganzen Raum sind die heftig rasselnden Atemzüge der Alten. Und dann springt Ned von seinem Hocker auf, tastet herum wie ein Blinder, sein Mund zuckt in Schock und Verständnislosigkeit. Er sieht dort sich selbst. Unter der krassen, schielenden Herausforderung in den Augen der Vettel sieht er in seine eigenen Augen, die Jahre des Lebens heruntergeschält, in seine Leiden der Kindheit, auf den zerlumpten Waisenknaben im Kampf der Straße. Er träumt, stirbt, wird fast verrückt.
Das Gezeter der Vettel bricht den Bann. «Hübscher Bursche, wie?» keckert sie. «Auch wenn er hie und da ’ne Tracht Prügel nötich hat, stimmt’s, Junge? Häh?» Und wie zur Bekräftigung dreht sie ihn um und reißt ihn mit einer einzigen geübten Bewegung am Ohr. «So, un jetz zurück in dein Loch, du kleines Drecksviech», keift sie, und das Kind verschwindet im Gang wie eine Luftspiegelung.
Es konnte doch nicht – nein, es konnte nicht sein. Paß auf, ruft die Stimme in seinem Kopf. «Ich …», setzt Ned an, doch er spürt schon wieder die Schlinge um seinen Hals, die Augen des Henkers glitzern in den Schlitzen wie seltene Edelsteine, und plötzlich packt er Boyles am Arm. «Steh auf, Billy, steh auf!»
Boyles hat inzwischen seine Aufmerksamkeit wieder dem Krug zugewandt, schüttelt ihn ab und zu und hält ihn sich ans Ohr wie ein Uhrmacher, der einen defekten Chronometer untersucht. Er stellt ihn für einen Moment ab und schürt das Feuer, glücklich wie am Tage seiner Geburt. «Was?» stößt er hervor, und in seiner Stimme liegt echtes Unverständnis.
«Iiiih-hiiih!» jault die Alte auf.
Ned reißt Boyles hoch. «Vergiß den Krug, Billy – wir müssen jetzt gehen. Wir gehen!» brüllt er, als wäre Boyles schwerhörig oder hirngeschädigt.
«Ooooch», krächzt die Vettel und bohrt sich im Ohr. «So bald schon? Wo ihr doch grad erst gekommen seid.Mutter hat nich mal die Zeit nich gehabt, um Tischdecken aufzulegen un das Tafelsilber zu putzen, hiiiih!»
Boyles macht ein verwirrtes, schmerzverzogenes Gesicht. «Aber mir gefällt’s doch hier, Ned», wimmert er, doch sein Kamerad zerrt ihn schon auf die Tür zu, mit einem verzweifelten, bebenden Griff, der seinen Arm – sogar durch den Mantel – mit der erbarmungslosen Härte einer Stahlfalle quetscht.
An der Tür zögert Ned, seine Stimme schwimmt auf einer Welle von Adrenalin: «Der Hof von Brunch», stottert er. «Alte, wo ist der?»
So etwas wie ein Lächeln verzerrt ihren Mund. «Bauer Brunch? Hab gedacht, ihr Burschen wärt Freunde vom Squire?» Der Witz bleibt ihr im Hals stecken, und sie fängt an zu husten und zu pfeifen wie ein müder Gaul, doch Ned ist schon zur Tür hinaus, rasend vor Entsetzen und Wut und Bestürzung, trampelt durch die Dornbüsche und zerrt Boyles
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