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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Falten, sein Gesicht ist jetzt ebenmäßig und zeitlos wie ein Porträt in einer düsteren Galerie.
    «Ich meine, die Kinder ohne Frau großzuziehen.»
    Der Bauer dreht sich um und sieht Ned ins Gesicht. «Es gibt einen Vater im Himmel, der sich um Nahum Pribble kümmert, und Nahum Pribble ist voll demütigem Dank für den Segen, ein Vater auf Erden zu sein, der sich um die zwei da kümmern darf.»
    Ned sieht hinüber zu dem Bettgestell, zu den beiden Kindern im Schatten, auf das ruhige, friedvolle Auf und Ab der warmen Decke.
    «Sie sind alles, was ich habe», sagt der Bauer mit so leiser Stimme, daß Ned ihn beim Prasseln des Feuers kaum hört.
     
    Am Morgen machen sie sich wieder auf den Weg, beschenkt mit Brot und Käse, einer Handvoll getrockneter Äpfel und einer Kanne Bier. Trotz der tiefhängenden Wolken, dem heftigen Wind und Temperaturen unter + 10   ˚C ist Ned voller Optimismus. Die Gastfreundschaft des Bauern hat ihn gerührt, hat ihn zum erstenmal seit Jahren spüren lassen, daß das Universum nicht ausnahmslos und aktiv böswillig, die Milch der frommen Denkungsart doch nicht ganz sauer geworden und immer noch Hoffnung in den Karten ist, mag auch der Stapel schlecht gemischt sein. Auf einmal pfeift er sogar ein Lied – eine Klarinettenmelodie, die Barrenboyne ihm vor Jahren beigebracht hat   –, währender die ausgefahrene Straße entlangschlendert wie ein Gutsbesitzer beim Verdauungsspaziergang.
    Obwohl es keine zehn Meilen bis Hertford sind, ist Boyles so scharf auf das Bier, daß er Ned zum Rasten überredet, ehe sie noch den ersten Meilenstein passiert haben. Es gelingt Ned, im Windschatten eines Mäuerchens ein Feuer in Gang zu bringen, und sie halten fröstelnd ein Picknick ab, grillen Brot mit Käse, machen sich Bratäpfel und spülen das Ganze mit durstigen Zügen Bier hinunter. Der restliche Weg geht freudlos vorüber, ein erbittertes, stummes Ankämpfen gegen den Wind auf der verlassenen Straße, weit und breit kein Haus oder Gasthof in Sicht. Am Spätnachmittag erreichen sie den äußeren Rand von Hertford, wo sie an den ersten drei Hütten, die sie probieren, schroff abgewiesen werden. Soviel zur Milch der frommen Denkungsart.
    «Was machen wir jetzt, Neddy?» stammelt Boyles zitternd und zusammengekrümmt, sein Gesicht ist ganz blau. Der Wind zaust die Bäume mit dem Geräusch von Knochen auf Knochen.
    Ned pustet sich die Hände warm, schlägt die Arme um den Körper, hüpft auf der Stelle. «Zum nächsten Haus weiter», keucht er, «da bitten wir, uns eine Minute am Feuer wärmen zu dürfen, und lassen uns den Weg zur Familie Brunch zeigen.»
    Das nächste Haus steht etwas abseits der Straße in einem Ahorn- und Eibenwäldchen. Taub vor Kälte kämpfen sie sich durch Dornen und Nesseln, über umgestürzte Bäume und durch den Morast eines stinkenden Rinnsals, als Wegweiser immer die dünne Rauchfahne des Schornsteins vor sich, in den Finger- und Zehenspitzen das erste Prickeln einer dunklen Vorahnung. Als sie vor dem Haus ankommen, bleiben sie wie angewurzelt stehen. Es ist kaum mehr als ein elender Schuppen, durch einen halb eingestürzten, nabelschnurartigen Gang mit einem noch winzigerenSchuppen dahinter verbunden. Das Ganze erinnert an einen Grabhügel der Druiden oder eine umgebaute Schafhürde aus den Zeiten von William dem Eroberer. Es gibt keine Fenster, aus den Mauern sind Steine herausgebröckelt und haben Löcher wie Zahnlücken hinterlassen, und das strohgedeckte Dach ist mit Unkraut, Moos, Dornsträuchern und zwei Meter hohen Baumschößlingen überwuchert. «Die Puste hätten wir uns sparen können», seufzt Boyles. «Da drinne wohnt doch seit hunnert Jahren keiner mehr.» Doch sie ist unbestreitbar da, die feine, stete Rauchsäule, die aus dem Schornstein quillt.
    Ned kniet sich in den gefrorenen Schlamm, um an die Tür zu klopfen, auf den Lippen ein Märchen von Not und Pein und großem Leid, in dem er und Boyles, auf dem Weg nach Cambridge zum Begräbnis ihres Vaters – ein wohlhabender Mann, ihr Vater, Porzellanhändler, bei seinem Tode an die zweihunderttausend Pfund reich – auf einmal von Straßenräubern überfallen wurden, die ihnen ihr ganzes Hab und Gut abgenommen und sie auch dann noch mit vorgehaltener Waffe gezwungen hätten, ihre Kleider mit jenen der herzlosen Lumpen zu tauschen, und seither seien sie ohne jeden Penny umhergeirrt, halbtot vor Hunger und Kälte, doch entschlossen, ihren Weg bis zu jener fernen Stadt des Wissens fortzusetzen, wo sie ja

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