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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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fanatische Ausdauer des Claude Messenger Osprey jun.
    Sie blasen Trübsal, die beiden, weil sie nicht mehr sicher sind, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, sich abgestumpft fragen, ob der Erfrierungstod wirklich so viel besser als der Galgen ist. Ned kann kaum noch die Füße heben, so müde macht die Kälte. Er will sich in den Straßengrabenlegen, den Mantel bis über die Ohren ziehen und von dampfenden Suppenkesseln und Tassen mit heißer Brühe träumen. Und Boyles, der arme plattköpfige Trunkenbold, ist sogar noch schlimmer dran. Seit langem ist er in eine Art Trance verfallen, torkelt die Straße entlang wie eine betrunkene Gliederpuppe, fällt immer wieder kopfüber ins Gebüsch, knallt der Länge nach aufs Pflaster, wo er sich auf den steinharten Boden kuschelt, als wäre es ein Federbett. Wenn er stolpert, dreht sich Ned jedesmal um und redet ihm zu, aufzustehen und weiterzugehen. «Komm schon, Billy, reiß dich zusammen und steh auf! Wenn du da liegenbleibst, bist du in einer Stunde tot.»
    «Prima.»
    «Jetzt komm schon!» – er reißt an den schmächtigen Schultern wie an einem Zaumzeug – «Beim nächsten Haus, das wir sehen, bitten wir um Einlaß.»
    In diesem Moment erklingt aus dem Zwielicht der Morgendämmerung Hufgeklapper und Räderquietschen, das auf sie zukommt. «Vorsicht!» piepst eine Kinderstimme, dicht gefolgt vom Knirschen eines bremsenden Fuhrwerks und einem männlichen Baß, der «Ho, ho, brrr!» schreit. Aus den Schatten schält sich ein Bauernkarren, dessen Räder etwa einen Zentimeter vor Boyles’ Quadratschädel zum Halten kommen. Die Zügel hält ein Mann mit zerfurchtem Gesicht und ergrauendem Haar, Ende Dreißig, Hände wie Granitblöcke und in den Augen die Andeutung eines Heilsarmee-Glitzerns. «Na, Bruder, was haben wir denn hier für Schwierigkeiten?» fragt er mit Donnerstimme und mustert den reglosen Boyles am Boden.
    Ned legt seine beste Armesündermiene auf und teilt ihm mit, sie seien auf dem Wege nach Hertford, hätten aber ein bißchen Pech gehabt. Ohne Unterkunft werde die Kälte sie wohl umbringen, bevor der Tag vorüber sei.
    Der Bauer drückt nachdenklich den Tabak in seinerPfeife fest, und plötzlich erhellen die ersten langen Sonnenstrahlen sein Gesicht. «Das darf nicht sein», knurrt er, wobei ihm der Rauch aus den Mundwinkeln quillt. «Klettert rauf und macht’s euch unter der Decke da mit meinen Jungs bequem.»
    Zwei runde schwarze Augenpaare spähen aus dem Schatten hinter dem Bauern hervor. «Nahum und Joseph», stellt der Bauer sie vor, während die Jungen im Karren für Ned und Boyles etwas Platz machen. Boyles hat aus Mangel an Schlaf, Wärme und Alkohol ganz glasige Augen. Er stolpert zweimal, schafft es mit etwas Schwung von Ned dann aber doch, sich in den Karren hineinplumpsen zu lassen. «Hier runter», sagt der ältere Junge, der etwa sieben sein dürfte, und kurz darauf stecken die beiden gemütlich unter einer groben Felldecke, schlürfen aus einem Krug noch warmen Apfelwein und drücken die Füße gegen eine eiserne Wärmflasche.
    «Ich fahre bis Enfield», ruft der Bauer über die Schulter, während der Wagen anruckt. «Könnt gerne mitkommen.»
     
    Ein Londoner Lord – irgendein ferner, von Geburt an privilegierter, Perücke und Seide tragender Angehöriger des Oberhauses, Ritter des Hosenbandordens und Stammgast in «White’s Spielsalon» – hat das Sagen über die sorgfältig angelegten Gärten, die kahlen schwarzen Wälder und die gepflügten Felder, in denen Nahum Pribbles Einzimmerhütte nahezu untergeht. Nahum ist nur der Pächter. Ihm gehören zwei Ziegen, ein Schwein, ein Dutzend Hühner und ein Ochse. Seine Frau ist gestorben. Eines Nachts murmelte sie im Einschlafen etwas von einem fetten Mann, der auf ihrer Brust hocke. Am Morgen war Blut auf dem Kissen. Nahum begrub sie hinter dem Haus, aber der Aufseher zwang ihn, sie wieder auszugraben und eine Grabstelle auf dem Gemeindefriedhof für sie zu kaufen. Seit dieser Zeit zieht Nahum seine Söhne allein groß.
    «Ein hartes Los», sagt Ned über einer Tasse Glühwein. Draußen ist es dunkel. Boyles schnarcht vor dem Kamin zwischen zwei Hunden. Die Jungen liegen im Bett.
    «Hartes Los? Das wird Jesus auch gedacht haben, als sie ihn ans Kreuz genagelt und ihm die Lanze in den Leib gerammt haben.» Nahum steht vor einem Wasserkübel, seine großen Pranken scheuern die hölzernen Abendbrotteller sauber. Das Licht des Feuers läutert seine Züge, glättet die Furchen und

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