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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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mit aller Macht am Ärmel mit.
    «’ne halbe Meile   … die Straße rauf, Firsich   … Firsichgesicht», keift ihm die Alte hinterher. «Bei die Weggabelung. Tut einfach übern Zaun klettern und dann quer über die Weide. Steinhaus mit ’ner baufälligen Scheune   … daneben. Hörste?»
    Ned rennt jetzt in voller Panik, jede Silbe ist eine Injektion von Pech und Schwefel und den ätzenden Salzen der Verderbnis, sein Gewissen nagt in ihm, Boyles ist ihm egal, seine Beine stampfen, die Arme zerteilen die toten Stengel und tiefhängenden Zweige, als wären sie Wellen und er ein Brustschwimmer, der es zum Ufer schaffen will, immer weiter rennt er, über die kalte, harte Straße auf das Asyl des Brunch-Hofes zu, wie ein frisch ertappter Brudermörder.

TICKET NACH GOREE
    Nach einer halben Meile kommen sie an eine Weggabelung. Rechts weist ein Meilenstein den Weg zum Dorf Hertford. Links erhebt sich eine mannshohe Mauer aus eng geschichteten Steinen, dahinter eine gewaltige Ausdehnung von frisch sprießenden Viehweiden, von hartnäckigen Eisfeldern durchfleckt, und in der Ferne, wie die Alte gesagt hatte, das Steinhäuschen mit der baufälligen Scheune daneben.
    Boyles bleibt stehen, entziffert mühsam den Meilenstein, kratzt sich am Kopf und geht dann zu der Mauer, stemmt sich ein Stück hinauf und wirft einen langen prüfenden Blick auf das Bauernhaus. Nach ein paar Minuten intensivster Konzentration, hastigen Lippenbewegungen und dem Abzählen mehrerer Rechnungen an den Fingern wendet er sich an Ned. «Das musses sein, Neddy, sieht mir ganz danach aus.»
    Ned hört nur mit halbem Ohr zu. Das Zusammentreffen mit der Alten und ihrem seltsamen, schüchternen Zögling hat ihn anästhesiert, er ist für Kälte und Ungewißheit gleichermaßen gefühllos, seine Ohren sind für die Hoffnungen und Schätzungen und das abgeschmackte Geschnatter seines Reisegefährten taub. Immer noch sieht er die Augen des Kindes vor sich, hört das triumphale Kichern der Alten, spürt dieses leere, würgende Gefühl im Bauch, das heimtückische Krampfen einer Wahrheit, die so unvorstellbar ist, daß sie nur in der dunklen, unzweideutigen Atmosphäre der Gedärme verdaut werden kann. Als er zu Boyles aufsieht, kann er nur nicken.
    Ein Ruck und ein Zuck und ein Plumps, dann sind sie auf der Weide, mitten in einem halben Dutzend verstörter Schafe. Während sie über die feuchte Wiese stapfen, beginnt der Bauernhof weit größer und prächtiger auszusehen, als sie vermutet hatten, die Scheune immer weniger baufällig. Ist das die Hütte eines Pächters? Mit drei Schornsteinen und einem zweiten Stockwerk?
    Boyles reibt sich erfreut die Hände, und Ned steht eben kurz davor, den logischen Schluß von der unverhofften Ausdehnung des Hofes zu den Hintergedanken der alten Vettel zu ziehen, als der erste Schuß aus der Schrotflinte sie zu Boden wirft. Der zweite peitscht ihnen den Schlamm ins Gesicht und bohrt die eine oder andere Kugel sauber durch ihre Hosen in das zarte, ungeschützte Fleisch von Schenkel und Hinterteil. Kurz darauf stehen zwei hölzern dreinblickende Wildhüter mit rauchenden Gewehren und glänzenden Stiefeln vor ihnen. Dann ertönt eine Stimme, tief wie Donner am Hang eines Berges, rechtschaffen und empört wie die Stimme des Herrn, und bellt einen scharfen Befehl: «Runter vom Grundstück, ihr Penner!»
    Ned erhebt sich langsam, sein Hintern brennt wie Feuer, und er starrt in eine Gewehrmündung. Der Mann hinter dem Lauf ist ungerührt wie ein Wiesel mit einer Ratte im Maul, bläßlich und mit toten Augen.
    «Aber – aber ihr wißt ja gar nicht   …», beginnt Ned, doch sofort zieht ihm der Mann in einer mechanischen, äußerst fließenden Bewegung von Schulter und Ellenbogen den Gewehrkolben über, und schon liegt Ned wieder mit dem Gesicht im Dreck. Dann spürt er den kalten Stahl im Nacken, den festen Zug des Stricks um seine Handgelenke, das kurze Kratzen eines Kartoffelsacks, der ihm über den Kopf gestülpt wird. Vom anfänglichen Schock bei dem Gewehrschuß bis zu dem blinden Stolpermarsch über die Felder hat das Ganze kaum fünf Minuten gedauert. Durch den Schmerz im Hintern und das Pochen im Kieferknochen hindurch erkennt Ned das betrunkene Schnüffeln und Winseln von Boyles an seiner Seite, und in der Ferne, ganz schwach, wie das vielzüngige Zischen von Kreuzottern in einer Grube, hört er die irre, keckernde Lache der Alten.
     
    Der Rest ist vorhersagbar wie Regen in Rangun. Squire Trelawney, der

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