Wassermusik
und Erniedrigung. Als sie sein Gesicht das letztemal gesehen hat, war es an jenem grauen Dezembermorgen vor sieben Wintern, am Morgen, an dem sie getraut werden sollten.
Unaufgefordert zieht Gleg einen Stuhl ans Bett und läßt sich mit einem Knacken seines knochigen Knies hineinfallen. «Ich war oben in Galashiels», sagt er zur Erklärung, «um meine Mutter und den Stiefvater zu besuchen, da habe ich die gute Nachricht gehört – das ist jetzt dein viertes?»
Ailie nickt.
«… also mußte ich einfach vorbeikommen und – meine Aufwartung machen.»
Was kann sie sagen? Hier ist der Mann, den sie gedemütigt hat, der Mann, den sie schlimmer behandelt hat als jeden Sklaven, hier sitzt er vor ihr, dreht ein grellbunt eingewickeltes Päckchen in der Hand und sieht sie an, als wäre das Ganze ihm zum Vorwurf zu machen. Sie spürt plötzlich, wie sie ihm eine Welle der Sympathie entgegenbringt. «Möchtest du vielleicht eine Tasse Tee?»
An diesem ersten Tag bleibt Gleg drei Stunden lang. Leert eine Tasse Tee nach der anderen, als nähme er an einer Art Wettbewerb teil, schlägt die dürren, schlaksigen Beine ständig von einer Seite zur anderen übereinander. Er erzählt, wie es ihm ergangen ist, und lauscht mitfühlend ihren Hoffnungen und Ängsten. «Was – was damals zwischen uns passiert ist», sagt er schließlich, und sie kann ihm nicht in die Augen sehen dabei, «war für mich eigentlich sehr gut, weißt du? Ich bin fortgegangen und habe versucht, etwas aus mir zu machen. Edinburgh war eine Auster,die nur geknackt werden mußte, und mit meines Onkels Hilfe habe ich sie auch geknackt, Ailie – in diesen sieben Jahren und vier Monaten hab ich’s so weit gebracht, wie es in meinem Beruf nur geht.»
Allerdings. Als Bester bei der Zulassungsprüfung an der Universität von Edinburgh studierte er Medizin unter dem zweiten Alexander Monro. Von dem besessenen Wunsch angetrieben, sich in irgendeinem abstrakten Sinne zu bewähren, widmete sich Gleg sklavisch dem Studium, brillierte in den Fächern Anatomie, Körpersäfte und Materia medica, opferte seine Freizeit und alle sozialen Kontakte dem Lesen von Aufsätzen und Büchern und hortete Pennies, um sich die feinsten Chirurgenbestecke aus Frankreich leisten zu können. Er lebte zurückgezogen wie ein Rabbiner, wie ein Mönch. Er zitierte wörtlich aus Boerhaave und Morgagni, verbesserte Monros Punktionsverfahren, schrieb Abhandlungen über Milz und Mandibula, und für seine Doktorarbeit lieferte er eine umfassende Beschreibung des analen Schließmuskels. Zwei Jahre später wurde er zum Professor der Anatomie bestellt und eröffnete gleichzeitig eine kleine Privatpraxis in einer Seitengasse der Canongate High Road. Bald fuhr er eine Kutsche und kleidete sich nach der neuesten Londoner Mode. Er fand sogar die Zeit, sich auf Fuchsjagden und beim Golf hervorzutun und eine Artikelserie in der Zeitschrift der Philosophischen Gesellschaft zu publizieren.
All dies enthüllt er ganz allmählich im Verlauf des Nachmittags, während er an einem Stück Würfelzucker lutscht und mit den geometrisch eckigen Ellenbogen herumfuchtelt, als wären es federlose Flügel. Schließlich erreicht er das Ende seines Berichts, und es wird still im Zimmer. Ailie hat sich die Haare gebürstet. Das Baby liegt schlafend neben ihr, ruhig wie ein Porträt. Ailie räuspert sich. «Und deine Frau?» fragt sie.
Gleg senkt den Blick. «Ich habe nie geheiratet.»
Während der kommenden zwei Wochen besucht Gleg sie täglich. Ailie ist froh über seine Gesellschaft. Gleg amüsiert sie – er ist immer wieder zum Lachen –, aber da ist noch etwas anderes. Anfangs weiß sie nicht genau, was es ist, doch in einer plötzlichen Erleuchtung wird es ihr klar: Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, daß er sie verehrt. Immer noch. Nach all den Jahren und allem, was geschehen ist, verehrt er sie. Und gerade jetzt kann sie ein bißchen Verehrung brauchen. Sie war am Boden zerstört, tief verletzt durch Mungos Abweisung, fühlte sich wertlos, unattraktiv, eine Frau, die ihren Mann nicht halten konnte. Und dann kommt da Gleg des Weges, fast wie ein Pilger, der sich dem Schrein nähert. In seinen Blicken liest sie, daß sie eine Göttin ist. Daß er ihr Bild während der langen einsamen Jahre immer auf dem Nachttisch stehen hatte. Daß er ihr Sklave war, ist und immer sein wird. Natürlich hat sie ein wenig Schuldgefühle, weil sie ihn so um den Finger wickelt, ihn bei sich empfängt, seine Geschenke und
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