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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Schwiegermutter auf sich, und bei jeder der hundert kleinen Haushaltsaktivitäten des Tages brodelte in ihr eine wachsende Wut auf ihren Mann und die unerträgliche Situation, in die er sie gebracht hatte. Ein Monat zog sich dahin, dann noch einer. Ailie war schwanger, abgekämpft, die Kinder rannten in der engen Hütte herum wie die Räuber und Gendarmen, ihre Schwiegermutter zog sich hinter eine Mauer aus eisigem, herrischem Schweigen zurück. Als ihr Vater siefragte, ob sie zu ihm nach Selkirk ziehen wolle, ließ Ailie sich nicht zweimal auffordern.
    Nun ist sie also wieder zu Hause. Zu Hause, um ihr Kind zur Welt zu bringen und ihre Wunden zu lecken, zu Hause, um die Kleinen unter dem schützenden Dach ihres Vaters aufzuziehen. Jetzt, da das Baby schläft, ihr Vater Krankenbesuche macht, die Kinder auf Besuch in Fowlshiels sind, bis sie wieder zu Kräften kommt, herrscht flüsternde Stille im Haus. Ja, sie ist zwar zu Hause, weg von der Unruhe bei ihrer Schwiegermutter, aber die Stunden hängen träge auf dem Zifferblatt der Uhr, und die Fenster sind ewig nur grau verhangen. Sie langweilt sich. Ist niedergeschlagen und besorgt. Sie versucht, einen Artikel über die geschlechtslose Fortpflanzung beim Süßwasserpolypen zu lesen. Sie fängt einen Brief an Mungo an, zerreißt ihn dann mutlos. Wozu soll das gut sein? Er bekommt ihn ja doch nie. Schließlich steht sie auf – mühevoll, ganz langsam   –, um sich im Spiegel zu betrachten. Und erschrickt bei dem, was sie sieht: eine Frau von dreißig, klein gebaut, mit zierlichen Zügen, verfilztem Haar und einem verletzten, zornigen Ausdruck, der sich ihrem Gesicht unauslöschlich aufgeprägt hat. Eine Frau, deren Kinn sich entschlossen vorschiebt und deren Blicke schneiden wie Messer, grimmig und unversöhnlich.
    Die Tage schleppen sich dahin. Katlin Gibbie, mit sechsundzwanzig schon eine fette Matrone, kommt zu Besuch, ihre zappligen, grabschenden Kinder im Schlepptau. Betty Deatcher kommt vorbei und Hochwürden MacNibbit. Der halbe Ort, so scheint es. Und alle bringen Geschenke mit: etwas fürs Baby, einen Blumenstrauß, einen Laib Brot, eine Tasse Brühe. Aber Zander ist nicht da. Und Mungo auch nicht.
    Der Gedanke an sie genügt, und schon liegt in ihrem Bauch eine hohle Angst, die wie Hungerqualen schmerzt. Sie versucht, sich an ihre Gesichter zu erinnern – an denGatten und den Bruder   –, sieht aber nur den grinsenden Sidi Bubi, der sich die Lippen leckt, einen Knochen im Nasenflügel. Als sie nach dem Bild auf dem Nachttisch greift, gehen ihr plötzlich böse Phantasien durch den Kopf, lange verdrängte Bilder sprießen aus dem feuchten Boden ihres Unbewußten empor wie Pilze   – Bilder, die Mungo in der Stille ihres Betts beschworen hatte, wenn die Dunkelheit über ihnen hing wie ein Löschblatt und seine Stimme drängte, immer weiter drängte, bis auch sie jede Furche in Dassouds Gesicht sah, die Fährte der Löwen und Hyänen ebenfalls roch, den rettenden Schlamm in eingetrockneten Wasserläufen in der eigenen brennenden Kehle schmeckte. Ob sie wohl in Schwierigkeiten waren? Krank? Verletzt? Irgend etwas kribbelt in ihren Finger- und Zehenspitzen, umspielt die Peripherie ihres bewußten Denkens, etwas Vages und Unstetes, etwas wie eine Vorahnung. Aber nein, sie ist einfach überdreht, das ist alles. Bloß eine morbide Einbildung, natürlich werden sie durchkommen, was kann denn schon passieren mit einer ganzen Einheit von bewaffneten Soldaten zu ihrem Schutz?
    Abrupt und schrill attackiert die Türklingel die Stille wie ein Schrei. Wieder Bewegung im Flur. Murmelnde Stimmen, Schritte auf der Treppe. Sie will niemanden sehen. Nicht in dieser Verfassung. Marys Klopfen. «Wer ist da?»
    «Sie haben Besuch, Ma’am.»
    «Schick sie weg, ich bin müde.»
    Schlurfen im Korridor, hartnäckiges Flüstern.
    «Er sagt, er kommt extra von weit her, Ma’am – den ganzen Weg von Edinburgh.»
    Edinburgh? Wer –?
    Im selben Augenblick geht die Tür auf und Mary schlüpft mit schuldbewußter Miene herein, dahinter der Besucher. Ein großer Mann, so groß wie der Türrahmen, das Haar über die Ohren zurückgekämmt und zu einemKnoten gebunden, Seidenstrümpfe, Schnallenschuhe – ist es denn die Möglichkeit?
    «Ailie, ich   …», stammelt er und tritt dann mit einem Paket in der Hand herein. «Ich will dir gratulieren.»
    «Georgie Gleg?» Ihr fehlen die Worte. Im ersten Impuls will sie sich die Decke über den Kopf ziehen, so stark sind Schuldbewußtsein

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