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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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im Schatten, zu klein und zu breit für Amuta. Ein Mann. DerFremde tritt vor, ziemlich behende für einen so untersetzten Burschen, das botanische Wuchern seines Kraushaars ist eine Silhouette im Licht der Tür, und einen wahnwitzigen Moment lang – Sinnestäuschung – glaubt der Entdeckungsreisende, er hat Johnson selbst vor sich, der dem Grab entstiegen ist.
    «E ning somo, merhaba»
, sagt Mungo den traditionellen Gruß.
    Die Stimme, die ihm antwortet, klingt so gespenstisch vertraut, daß es ihm eiskalt über die Kopfhaut läuft und seine Kehle trocken wird.
«E ning somo, merhaba Park.»
    Unheimlich. Stimmlage, Klangfarbe, Betonung. Aber bei einem so kleinen Dorf und all dieser Inzucht, die es da gibt, ist ja alles möglich. Der Entdeckungsreisende räuspert sich. «Bist   … bist du verwandt mit John – ich meine, mit Katunga Oyo?»
    Schwarz im Schatten und schwarz im Licht, tritt die Gestalt zielsicher vor, bis sie vom goldenen Schein aus dem Rauchabzug umflort ist, schlagartig beleuchtet und wirklich geworden, der Hauptdarsteller aus den Kulissen, den brausender Applaus empfängt. Jetzt redet er plötzlich englisch: «Verwandt? Nö, das würd ich nicht grad sagen.»
    Mungo kommt näher, umklammert immer noch die Schreibfeder, sein Blut rast, Adrenalin durchtost ihn, und all die Stimmen der Vernunft, all die sonoren Schullehrer und Afrika-Gesellschafter und pedantischen Wissenschaftler im heilen und hellen Großbritannien, sie rufen
nein, nein, nein
. Aber doch. Ja, ja, ja: er ist es. Johnson. Johnson leibhaftig.
    Der Entdeckungsreisende reagiert rein instinktiv – er wirft sich dem fetten kleinen Mann mit all der Leidenschaft eines Internatsschülers, der nach Hause kommt, an die Brust. «Johnson!» ruft er und klopft dem Schwarzen dabei mit aller Kraft auf den Rücken, preßt die fleischigen Schultern in einer gewaltigen Umarmung zusammen.«Warum hast du nicht geschrieben, du hättest doch zumindest   … aber du weißt ja nicht, wie froh ich bin, dich wiederzusehen, alter Junge, wie gut das   … Aber erzähl erst mal», er tritt einen Schritt zurück, «wie bist du überhaupt, ich meine, ich dachte   …?»
    Während der ganzen Szene bleibt der Mandingo stocksteif, gibt sich keine Mühe, die Umarmung des Entdeckungsreisenden zu erwidern oder auch nur die rudimentärsten sozialen Signale zu geben – weder lächelt er noch streckt er die Hand aus. Er wirkt so ungerührt, so teilnahmslos, daß der Entdeckungsreisende kurz zu zweifeln beginnt. Könnte es ein Zwillingsbruder sein? Ein Cousin ersten Grades? Aber nein: es ist Johnson. Unverwechselbar. Über sechzig inzwischen, sieht aber zwanzig Jahre jünger aus, graue Strähnen im Haar, und fetter als je zuvor ist er. Da ist die goldene Stiftnadel im Nasenflügel, und da, die gespielte Würde in seiner Miene, ein Ausdruck, der besagen will: Du hast mir ziemlich das Fell gezaust, mein Freund, aber ich will weiter kein Aufhebens drum machen, wenn du ’ne Kalebasse Palmwein rausrückst, und vielleicht noch ’ne Lammkeule, damit der Kuskus besser schmeckt. Diesen Ausdruck hat er tausendmal gesehen. Natürlich ist es Johnson.
    «Johnson», sagt der Entdeckungsreisende scharf und ungeduldig, als wollte er jemanden aus tiefem Schlaf wecken, «Johnson – erkennst du mich etwa nicht?»
    Der Schwarze sieht ihm direkt in die Augen. «Ich heiße Isaaco.»
    «Isaaco? Was soll das heißen? Johnson – ich bin’s, Mungo.» In diesem Augenblick wird dem Entdeckungsreisenden klar, was anders ist, das fehlende Element in der Komposition von Johnson, die sich so dauerhaft seinem Gedächtnis eingeprägt hat: die Toga. Dürrbeinig und schmerbäuchig, trägt sein ehemaliger Führer nichts als ein Stück Leinen – makellos rein wie die Serviette eines Gecken– lose um die Lenden gewickelt. Darüber – und das ist ein Schock – ziehen quer über den großen, harten Ballon seines Bauches wie Nähte zwei schartig horizontale Narben: eine umschließt zangenförmig den Brustkorb wie ein hoch taillierter Gürtel, die zweite macht seinen Nabel unkenntlich und biegt dann in scharfem Winkel abwärts unter die Falten des Lendenschurzes, um außen am Oberschenkel wieder aufzutauchen, rosa und häßlich. Die gezahnten, ausgefransten Narben könnten mit einer monströsen Zickzack-Schere geschnitten sein.
    Eine Woge von Mitleid und Abscheu überspült den Entdeckungsreisenden, und er streckt unsicher und tröstend einen Finger aus, wie um die Spur der oberen Narbe zu glätten.

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