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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Schultern, gelbverfärbten Augen und eingefallenen Wangen schlurfte Seed aus dem Zelt in die grelle Sonne, die dem Regen gefolgt war. Er atmete tief ein, richtete sich auf, humpelte entschlossen zu dem Haufen aus Nägeln, rostigen Sägen, Hämmern, Beilen und Meißeln, die den Marsch überstanden hatten, und fing an, auf die herumliegenden Holzstücke einzuschlagen.
    Er arbeitete den ganzen Nachmittag, wobei er mehrfach neues Holz verlangte. Der Entdeckungsreisende war hocherfreut. Er kehrte in sein Zelt zurück, fütterte die Hühner, schrieb Tagebuch und spuckte auf den Boden. Als er um sechs herauskam, um nachzusehen, wie Seed vorankäme, bemerkte er mit Erstaunen, daß der Zimmermann mit seinem Hämmern und Sägen, dem sorgfältigen Ausmessen, Hobeln und Einpassen eine beträchtliche Menge neugieriger Eingeborener angezogen hatte. Mungo bahnte sich einen Weg durch die Menge, wobei er sich hütete, auf Eingeborenenfüße zu trampeln, und wollte Seed gerade etwas Joviales zurufen – etwa «Na, wie geht’s voran, alter Junge?»   –, als er abrupt stehenblieb und ungläubig den Atem anhielt. Seed arbeitete tatsächlich ganz munter, pfiff dabei, als wären ihm Sorgen völlig fremd, schliff hier eine Ecke ab, putzte dort einen Splitter weg. Er arbeitete, aber er baute kein Boot. Er baute einen Sarg.
    Bei Sonnenuntergang war es mit Seed vorbei. Der Entdeckungsreisende schob den Ex-Zimmermann in seinen Sarg, bezahlte zwei Kafir-Mandingos dafür, ein Loch zugraben, und beerdigte ihn ohne Zeremoniell. Bootsmäßig sahen die Dinge äußerst schlecht aus. Doch in diesem Moment – im selben Moment, als Mungo die erste Schaufel Erde auf das Grab warf – stolzierte Ned Rise ins Lager, vor sich die schwarzglänzenden, wasserbefleckten Rümpfe zweier schnittiger Eingeborenenkähne, die in der Luft zu schweben schienen wie ein Geschenk der Götter. Dann hoben die acht schwarzen Träger die großen Einbäume keuchend von den Schultern und setzten sie so behutsam ab, als wären sie aus Pappe. Der Entdeckungsreisende war in Ekstase. Er umarmte Ned wie einen totgeglaubten Sohn, klopfte ihm mit beiden Händen die Schultern und erstickte ihn mit Lob und Versprechungen von Medaillen, Orden, Auszeichnungen und finanzieller Freigebigkeit bei ihrer Rückkehr nach England. Dann sah er sich die Kähne näher an.
    Sie waren durch und durch verfault, alle beide. Schlamm, Wasserpflanzen und sterbende Elritzen hingen an den Rümpfen, und ein gigantisches Loch zierte das Dollbord des kleineren Boots, Zeugnis einer historischen Konfrontation mit einem erzürnten Flußpferd. Unter dem Strich sahen beide Boote so aus, als wären sie irgendwann in der Zeit von Karl   I. gebaut und seither zum Vermodern liegengelassen worden. Das Kalomel regte Mungos Speicheldrüsen an, seine Unterlippe fiel herab, und er begann zu sabbern. «Was soll denn das, Ned?» brachte er hervor, unfähig, seine Enttäuschung im Zaum zu halten. «Jeder Idiot sieht doch, daß das total wertlose Wracks sind!»
    Ned grinste. Er hatte die Kähne unter einem Haufen Treibholz am Ortsrand gefunden. Sie waren halb versunken, vollgesogen und am Verrotten. Keiner erhob Anspruch auf sie. Er hatte sie aus dem Fluß gezerrt und nach genauer Begutachtung befunden, sie seien den Versuch wert. Für fünfzig Kauris pro Stück konnte er acht herumlungernde Einheimische dazu anheuern, die Dinger auf ihrenbreiten, flachen Köpfen zu balancieren und ins Lager zu schleppen. «Vielleicht kriegen wir sie wieder hin», sagte er schließlich. Der Entdeckungsreisende zweifelte. «Nein, ehrlich», sagte Ned. «Sehen Sie mal» – er beugte sich über den schlüpfrigen grünen Rumpf des größeren Bootes   –, «das Vorderteil von dem hier ist gar nicht so übel   … und das andere da mit dem Gebißabdruck, da sieht doch das Heck noch ganz ordentlich aus, oder?»
    Der Entdeckungsreisende sah hin. Er war berauscht und nervös von dem geschmacklosen weißen Pulver, das er genommen hatte, um sich dem Fieber zu entreißen. Versuchsweise hob er ein Bein, um an den Rumpf des kleineren Boots zu treten. Er ging in die Knie und fuhr mit der Hand über das Holz wie ein Möbelschätzer. Dann blickte er blinzelnd zu Ned auf. «Du meinst   … wir könnten aus den zweien eins machen?»
    Ned hob eine Hand an die Stirn und knallte die Hacken zusammen. «Hervorragende Idee, Käpt’n.»
     
    Am 15.   November war die
H.M.S.   Joliba
unter britischer Flagge voll beladen und bereit zum Auslaufen. In einem

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