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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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hohen dünnen Luft und schimmert in der Morgensonne. Sie will weg, und sie will bleiben. Will ihre Kinder wiedersehen, und gleichzeitig will sie weiterreisen, auf die Hebriden, in die Arktis, durch ganz Rußland und bis nach Tibet. In diesem Moment ist sie so dicht wie noch nie daran, ihren Mann zu verstehen: das Abenteuer, die Unberechenbarkeit, der Kitzel beim Entlanghetzen der Kombinationen aller Möglichkeiten, die Klarheit im Tun und Erleben – wie kann der Anblick der immer gleichen Hofecke, der immer gleichen schwarzen Stute, der immer gleichen vier Wände je an das herankommen.Es ist der 6.   April. Mungo ist nun seit anderthalb Jahren weg. Heute ist ihr Tag, ganz allein ihr Tag.
    Beim Frühstück stößt Fiona die Fenster auf, und Vogelgezwitscher, goldenes Licht, eine frühe Eintagsfliegenbrut strömen herein. Tim Dinsdale ist da, Donald McDonald, ein halbes Dutzend Ramsays mit Büßermiene, Ewan Murchinson, Sir Adolphus Beattie, Miss Mary Ogilvie, Betty mit ihrem Pfarrer, Mrs.   Quaggus, Fiona und Georgie. Jeder – sogar Reelaiah Ramsay – scheint vergnügt zu lächeln; alles redet über einen Ausritt oder einen Spaziergang, ein Picknick oder ein Spielchen Krockett. Das einzige Thema von allgemeinem Interesse ist das Wetter. «Na, das ist doch wirklich mal ein toller Tag», sagt Mrs.   Quaggus beim Buttern ihrer Haferkuchen. «Prachtwetter», bemerkt Sir Adolphus, «wirklich erste Klasse.» Tim Dinsdale meint, so warm war es im April seit ’81 nicht mehr, dem Jahr, wo es im Juli geschneit hat. «Einfach ein Segen, ja wirklich», seufzt Fiona. Ailie ist ganz ihrer Meinung.
    Danach setzt sich Georgie auf der Veranda neben sie. In seinem schlichten braunen Anzug, dem Seidenhemd und den Reitstiefeln sieht er beinahe elegant aus, wie er den langen Körper streckt, den Kopf zurücklegt und die Beine lässig, selbstbewußt übereinander schlägt, er drückt zugleich Wohlstand und Bescheidenheit damit aus. Er hat immer noch Segelohren, seine Handgelenke ragen hartnäckig aus den Jackettärmeln hervor, die Nase wirkt wie etwas, das man auf dem Schlachtfeld vor sich herträgt – aber hat das noch eine Bedeutung? Sind das nicht Dinge, die einem Kind auffallen würden?
    Georgie rutscht auf dem Stuhl herum. «Tja, Ailie», sagt er nach einer Weile, «heute ist dein letzter Tag. Möchtest du ein bißchen auf dem See herumfahren?»
    «Im Ruderboot?»
    Er nickt.
    Fiona marschiert mit Thomas durchs Wohnzimmer, sietrommeln auf Kochtöpfen herum und singen aus voller Kehle «Haytin foam, foam eri», Betty und ihr Pfarrer spazieren Arm in Arm im Garten herum, und Mrs.   Quaggus ist von Ramsays umgeben und schwingt bei ihrer sechsten Tasse Tee Lobreden auf den verstorbenen Gatten.
    Georgie studiert Ailies Gesicht von der Seite. Sie dreht sich um und sieht ihm in die Augen. «Nichts täte ich lieber.»
     
    Wie es so mit den seitwärts aus den Dollen ragenden Riemen an der Mündung des Divach Burn am Ufer liegt, könnte das Ruderboot der Überrest eines Phantasie-Lebewesens sein, ein gigantisches angespültes Insekt oder das hohle Außenskelett einer prähistorischen Krabbe; allerdings hat Fiona es rot anstreichen lassen – damit man es gut sieht – und auf den merkwürdigen Namen
Wassergeist
getauft. Das Boot ruht dort im Unterholz, ein Zeichen der Zivilisation, während Vögel im Schilf umherflitzen und Mücken über dem Wasser spielen. Georgie hüpft von einem Bein aufs andere, um sich die Stiefel auszuziehen, zerrt den Kahn in das whiskyfarbene Wasser und geleitet Ailie galant ins Heck. Dann hebt er den Picknickkorb hinein (drei Flaschen Wein, Räucherlachs, Zunge, Käse, Brot, Radieschen und leinene Mundtücher), gibt dem Boot einen einigermaßen athletischen Schwung, und die Fahrt geht los.
    Kaum ein Lüftchen regt sich, und die Hitze – es müssen mindestens fünfundzwanzig Grad sein – schmilzt über ihnen wie Butter. Ailie legt Hut und Halstuch ab, öffnet den Kragen und sieht zu, wie der Schilfgürtel in der Ferne verschwindet und der große, verfallene Turm von Urquhart Castle zu ihrer Rechten näher kommt. Es ist phantastisch. Der Tag, die Gegend, die Begleitung. Sie kommt sich mädchenhaft und einfältig vor, das Blut in ihren Adern fließt schwerelos. Georgie stemmt sich in die Riemen. Sie möchte ihn am liebsten in die Nase zwicken.
    «Sollen wir näher an die Ruinen heranfahren und sie uns von hier unten ansehen?» keucht er, indem er das Boot zu der Landzunge mit dem Schloß dreht. Er blickt sie

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