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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Gestalten seiner Opfer, Legionen von ihnen, ausgeweidete Krieger, verkohlte Frauen, Kinder, die ihm abgetrennte Gliedmaße entgegenstrecken. «Nein!» wispert er, immer noch zurückweichend, Lippen und Zunge beben, er steht knapp vor einem Tränenausbruch – er kreischt, bis ihm die Kehle schmerzt, heult auf wie jene hoffnungslosen, unsichtbaren Wesen, die Nacht für Nacht im Dickicht des Dschungels ihr Leben lassen.
    In diesem Moment jedoch betritt gelassen und würdevoll ein kleiner Mann energischen Schrittes den Hof. Geschäftig, jeder Umweg verlorene Zeit, nähert er sich dem Häuptling, einen großen schwarzen Gegenstand unter den Arm geklemmt. Er strahlt eine Aura des Unerwarteten, des Ränkespiels, der Machenschaften auf obersterBefehlsebene aus. Er könnte ein mächtiger Anwalt sein, Chef des Außenamtes, der Premierminister. «Ganz ruhig bleiben, Mannie», sagt er. «Ich übernehm die Sache.»
    Es ist Wokoko, der Geisterbeschwörer des Stammes. Gekleidet ist er in ein Kostüm, das sich aus den Ersatzteilen eines Hyänenrudels   – Klauen, Zähne und filziger, gelber Pelz – und dem Gefieder eines Marabuschwarms zusammensetzt. Der Gegenstand unter seinem Arm ist eine geschnitzte Holzmaske, die in jedem Detail so schonungslos gräßlich aussieht, daß sie zehn Dämonen auf einmal in die Schranken weisen kann. Mit einem Fingerschnippen schickt er die Hälfte der Wachen zum Vordertor, dann wendet er sich an den immer noch am Boden liegenden Boten. «Richte dem Dämon aus», sagt er mit wohlüberlegten Worten, «daß der allmächtige Mansong, Würger des Löwen und Bezähmer des Bullen, ihn jetzt nicht empfangen kann   … er hat Kopfschmerzen.»

FÜNFZIGTAUSEND KAURIS
    Mansongs Palast ist ein weitläufiger, planloser Bau aus Kantholz und dem steinharten roten Lehm, aus dem Termiten ihre Hügel errichten. Der architektonische Zusammenhalt wird durch eine verschachtelte Serie ummauerter Gänge und Innenhöfe zerstückelt. Spitz zulaufende Palmen wiegen sich über diesen Höfen wie Antennen, und aus der Mitte des Areals ragt der Wipfel einer riesigen Eselsfeige wie ein Baldachin auf. Alle Gebäude und Innenwände sind mit einer Mischung aus Knochenmehl, Stärke und Wasser geweißelt. Da diese Tünche ihrer Aufgabe nicht gewachsen war, hat sich den Wänden ein blaßrosa Pastellton erhalten; an manchen Stellen kommt das Rot auch in grellen Striemen durch, wie Klauennarben auf der Flanke einer Opferkuh. Das Ganze wird von einer drei Meter hohen Lehmmauer und spitzen Pfählen umschlossen,die von drei Zentimeter langen blauschwarzen Stacheln gekrönt sind. Es gibt nur einen Zugang. Das Tor besteht aus eng zusammengeschnürten Bambusbündeln. Es ist einen Meter dick.
    Entdeckungsreisender und Dolmetscher stehen seit etwa drei Stunden vor diesem Tor. In periodischen Abständen wölbt Johnson die Hände vor dem Mund und formuliert lauthals sein Gesuch, er sei nur ein einfacher Mandingo aus Dindiku und er habe einen harmlosen weißen Mann
(hon-ki)
mitgebracht, der extra jenseits von Bambuk, der Jallonka-Wildnis und dem großen Salzmeer hergekommen sei, um Mansong zu huldigen, dem Bezwinger der Löwen und Würger der Bullen, dessen Ruhm sich ausbreite wie die Lotosblüte auf dem Wasser und auf der ganzen weiten Welt bekannt sei.
    Bisher hat er keine Antwort bekommen.
    Die Hitze ist natürlich niederschmetternd. Pferd und Esel liegen im Mauerschatten, zwei Knochenbündel. Der Entdeckungsreisende wechselt zwischen Schüttelfrost und Schwitzen ab, ihm läuft die Nase, und seine Gelenke fühlen sich an, als hätte man Nägel hineintrieben. Johnson schlägt nach Fliegen.
    «Sag mal, Johnson», beginnt der Entdeckungsreisende im Plauderton und läßt sich im Staub nieder, «wieso fühlst du dich eigentlich verpflichtet, dieses verdammte Stück Aas um den Hals zu tragen?»
    Das Perlhuhn hat zu diesem Zeitpunkt den Kopf und den zweiten Flügel verloren. Aus dem verfilzten Gefieder treten nun die Rippen hervor, an denen rosa Fleischklumpen und blaue Adern kleben, und Maden quellen aus dem Körperinneren wie aus der Tube gedrückte Zahnpasta. Überflüssig, die Fliegen zu erwähnen.
    «Usus», sagt Johnson.
    «Usus?»
    Johnson seufzt. «Ist ganz einfach: Als die Dscharranerhörten, daß Tiggitty Sego im Anzug war, gingen sie zu Ebo. Als Geisterpriester des Dorfes war es seine Pflicht, Chakalla, den Gott der verletzten Tabus, zu besänftigen, indem er alle Sünden der Dorfbewohner auf sich lud, in der Hoffnung, Chakalla würde

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