Wassermusik
Gelasse in Mönchsklöstern erinnerten. Ailie zog den Korken aus einer Portweinflasche, schnitt mit dem Rasiermesser ihres Vaters eine hauchdünne Scheibe herunter und drehte an der Scharfeinstellung. Sie sah nichts als Grübchen und Furchen. In dieser Nacht ging sie ernüchtert zu Bett, träumte von Welten jenseits der Reichweite des Auges, jenseits der Reichweite von Schraubzylinder und Linse, von noch winzigeren Welten, von Welten innerhalb von Welten innerhalb von Welten.
Dann entdeckte sie Anton van Leeuwenhoek.
Einen Hinweis auf seine Arbeiten fand sie in einer dermedizinischen Zeitschriften ihres Vaters. Vor beinahe hundert Jahren hatte van Leeuwenhoek mit Hilfe von selbstgeschliffenen, außerordentlich starken Linsen die Hypothese des Aristoteles von der «Urzeugung» als Unsinn entlarvt. Er beschrieb die Lebensstadien von Floh und Kornkäfer, wobei er hervorhob, daß diese aus befruchteten Eiern entstanden, nicht aus dem Staub oder dem Getreide selbst, wie man zuvor angenommen hatte. Ebenso wie Francesco Redi eine Verbindung zwischen dem Wachstum von Maden und den Eiern der Stubenfliege gezogen hatte, so konnte van Leeuwenhoek demonstrieren, daß selbst die niedersten Kreaturen, dem unbewaffneten Auge kaum noch sichtbar, auch aus anderen Kreaturen entstanden, die ihnen vorangingen. Ailie hatte tagelang mühsam über groben Skizzen der Flöhe gesessen, die sie unter dem Halsband ihres Hundes fand, und empfand dies als eine Offenbarung.
Ihr Vater hatte nur eine lückenhafte Bibliothek, doch sein alter Freund und Kollege, Dr. Donald Dinwoodie in Kelso, besaß eine vollständige Sammlung der
Philosophischen Protokolle
der Akademie der Wissenschaften, zu denen Leeuwenhoek während der letzten fünfzig Jahre seines Lebens Artikel beigesteuert hatte. Ailie packte ihr Mikroskop und die Skizzenblöcke ein, sattelte das Pferd und ritt die dreißig Meilen nach Kelso. Sie zog für einen Monat zu Dinwoodie und vertiefte sich in seine Bücher. Leeuwenhoek, so erfuhr sie, hatte «animalicula» gesehen, von denen es in einem Wassertropfen wimmelte, die bebenden, kugelförmigen Komponenten des menschlichen Blutes, den wirbelnden Schwarm von Spermatozoen im Samen von Insekten, Rindern und Menschen. Welten innerhalb von Welten. Zitternd vor Aufregung ging sie an die Regentonne, entnahm ihr eine Phiole Wasser und untersuchte sie unter ihrem Objektiv. Sie sah gar nichts. Ihr einfaches Instrument hatte nicht die Kraft dazu. Sie ritzte sich den Fingerund betrachtete einen Blutstropfen. Wieder nichts. Für das Sperma, dachte sie, würde sie auf Mungo warten.
Nach Selkirk zurückgekehrt, setzte sie ihre Studien fort, doch ihr Enthusiasmus begann zu schwinden. Welchen Sinn hatte es denn? Niemand kannte van Leeuwenhoeks Geheimnis – wie hatte er Linsen schleifen können, die Objekte in fünfzig- bis dreihundertfacher Lebensgröße abbildeten, und wie hatte er diese Vergrößerung mit Spiegeln und Lampen verstärkt, um sogar noch einen größeren Faktor zu erzielen? Ihre Schraubzylinder-Lupe war ein Spielzeug dagegen. Sie war sauer. Doch dann, eines Morgens, kam Gleg in die Küche geschlichen, grinste wie ein Frosch, die Hände hinter dem Rücken versteckt. «Ich hab dich vermißt», sagte er, wobei er die Silben dehnte, als wäre jede eine Scheibe Toast, die erst mit Butter bestrichen werden muß. «Jeden Morgen deiner Abwesenheit hat mein Herz geblutet und geschmerzt allabendlich, wenn die Sonne ohne dich zur Ruh’ kam.»
Sie knetete gerade Teig. Sie sah ihn an und erschrak über seinen Gesichtsausdruck. Sein Kopf schwankte, die Ohren wackelten, während ihm sein unmögliches, unsicheres Lächeln die Wangen in die Höhe zog, die Nase nach unten drückte und seine gelben Zähne wie eine Reihe von Grabsteinen freilegte. Plötzlich wußte sie, was los war: Er hatte einen Anfall. Sie stand auf, die Hände weiß vom Mehl. «Georgie – was hast du denn?»
Er strahlte nur, bis zum Platzen voll mit der Neuigkeit, hinter dem Rücken das Rascheln von Geschenkpapier. «Hier», sagte er, indem er eine braun eingewickelte Schachtel hervorzog, «für dich. Mit all meiner Liebe und Wertschätzung.»
Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab, lächelte ungewollt und griff nach der Schachtel. «Für mich?» sagte sie und riß das Papier auf. Sie hielt den Atem an. Es war ein Buch, Ledereinband, goldene Lettern.
Versuche am Mikroskop
von George Adams dem Jüngeren, 1787. Das Neuste über die Mikroskopie. In heller Freude wollte
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