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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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viel. Sie mag ihren Kaffee am frühen Morgen. Mag den Duft, die Bitterkeit und den Auftrieb, den er ihr verschafft.
    Gleg und ihr Vater trinken als Traditionalisten Tee, zu Haferkuchen und Brei. Merkwürdig schweigsam sind die beiden heute früh, so als hätten sie ein Komplott verabredet – tief über die Teller gebeugt kauen sie ihre Haferkuchen wie Pferde im Stall. Ihr Schmatzen und das Klingeln der Löffel in den Tassen sind die einzigen Geräusche. Zanders Platz ist leer. Er war schon vor Sonnenaufgang auf, rastlos, und wandert jetzt sicher irgendwo in den Hügeln umher.
    Wie üblich hatte Gleg sie mit einem Schwall von «Guten Morgen» und halbanzüglichen Komplimenten über ihr gut sitzendes Kleid, ihre rosigen Wangen, ihre schmale Taille bedacht. Inzwischen aber ist er, noch mit Schlaf in den Augen, der bedächtigen und ernsthaften Aufgabe zugewandt, sich den Schlund vollzustopfen. Ihr Vater, struppig und zerzaust, hat erst zehn Silben von sich gegeben, seit er am Tisch sitzt: «Haferkuchen sind angebrannt, Mädel.» Sein Kopf hängt in einer Weise über Gabel und Teller, die ihr ordinär vorkommt, seiner Stellung unangemessen. Ein Stück Kopfhaut lugt nackt und rosa unter der weißen Masse seines Haars hervor.
    Ja, die Haferkuchen sind angebrannt. Das gibt sie ja zu. Sie war abgelenkt – und eigentlich ist es seine Schuld. Vor zwei Monaten, als die Sonne Wildblumen über die Hügel streute, hatte er ihr aus Edinburgh ein Geschenk mitgebracht. Es sollte ihr Spaß machen, ihre Gedanken vom tiefen Innern Afrikas und der trägen Abfolge der Tage, Wochen und Monate ablenken. Er war zur Vordertür hineingeschlüpft, ein verschmitztes Grinsen auf den Lippen, die Rechte tief in der Tasche des Überziehers vergraben. Sie war wieder ein Kind gewesen, seine kleine Tochter. Was ist es, so sag’s mir doch!
    Es war ein Mikroskop. Hölzernes Gestell, Messingzylinder, Glasobjektiv. Nichts zum Anziehen, nichts zum Essen. Kein Halstuch, kein Anhänger, keine Pralinenschachtel. Nichts von der neusten Mode, kein Parfum, nicht einmal ein Exemplar von
The Lady’s Magazine
oder
The Monthly Review
. Ein Mikroskop. Sie hatte ihre Enttäuschung nicht verhehlen können.
    Zwei Wochen lang stand es im Flur. Gleg machte ihr auf seine alberne Art den Hof, und ihr Vater schien ihn auch noch zu ermutigen. Ihre beste Freundin, Katlin Gibbie, heiratete auf einen entlegenen Hof, und Zander zog sich immer mehr zurück, war mit seinen eigenen Problemen beschäftigt. Von Mungo kam keine Nachricht. Sie langweilte sich. Eines Nachmittags betrachtete sie einen Zeitungsschnipsel in Vergrößerung und stellte zu ihrer Verblüffung fest, daß jeder Buchstabe aus Myriaden schwarzer Pünktchen bestand. Ein Zwirnsfaden wurde zum Schiffstau, ein paar Hundehaare zum Dickicht, ein Floh zum Monstrum. Sie durchstöberte das ganze Haus, erforschte alles, was sie in die Finger bekam – das Webmuster ihrer Röcke, die Topographie eines Stück Holzpapiers, die unglaublich zierliche Kraft, die einen Milchtropfen in Spannung hält. Dann wandte sie sich ins Freie. Blätter, Rinde, die Blütenblätter der Rosen, Insekten. Sie bestaunte das Gittermuster einesFliegenflügels, die flaumigen Schaumbläschen, die wie Perlen auf den Fühlern einer Motte stehen, die grausamen Haken am Unterkiefer einer Ameise. Sie zerrte Spinnennetze aus den Dachsparren, riß ihren Tauben Federn aus. Einmal nahm sie eine Plötze aus dem Aquarium und steckte sie unter das Objektiv, um das zarte Geflecht der Schuppen zu untersuchen, die sich wie Wellen am Strand überlappten. Sie war verzaubert. Die Leere, die Mungo in ihr hinterlassen hatte, wurde langsam kleiner, während die Gegenstände ihrer Betrachtung sich unter dem Objektiv vergrößerten. Ihr Leben hatte wieder einen Mittelpunkt, und sie war Zeugin davon, wie er immer weiter wuchs.
    Ihre Skizzen, mit Kohle und Tinte gezeichnet, bedeckten die ganze Wand. Hier die Äderung eines Blattes, dort die Schnörkel eines Fingerabdrucks. Eine Wimper, dick wie ein Balken, die bedrohlichen Sägezacken eines Käferbeins. Sie fand ein Exemplar von Robert Hookes
Micrographia
in der Bibliothek ihres Vaters und verschlang es wie einen dreibändigen Roman. Hooke hatte ein Stück Kork vergrößert und dessen verborgene Struktur entdeckt: Es bestand aus winzigen, ineinander verzahnten Einheiten, aus für das Auge unsichtbaren, abgetrennten Kammern, wie man es sich niemals vorgestellt hätte. Zellen, so nannte er sie, weil sie ihn an die kleinen

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