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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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laß ich ihn los.»
    Eine halbe Meile hinter dem Dorf bricht der Entdeckungsreisende unter einem Baum zusammen. «Ich kann nicht mehr, Johnson. Ich bin einfach zu kaputt und fertig und entmutigt.»
    Hundert Meter weiter, eingehüllt in Schilfrohr und Binsenhalme,fließt der Niger, braun und teilnahmslos wie alle Augen in allen Gesichtern Afrikas.
    In den Bäumen kreischen Turakos. Ein Flußschwein grunzt im Uferschlamm und läßt einen Pfauenkranich in einer Explosion aus Gold und Specksteingrau aufflattern. Der Entdeckungsreisende beobachtet den Vogel auf seinem Weg zum Himmel, den Schlagzeugrhythmus der Schwingen, die herabbaumelnden dürren Beine, sieht dem aufsteigenden Kranich nach, bis er in den Wolken verschwindet. Als er den Blick sinken läßt, fährt er zusammen, weil dicht über ihm zwei Geier kreisen, die ledrigen Hälse gekrümmt, geduldig wie Leichenbestatter.
    «Also, wie ich das sehe, haben wir zwei Alternativen», seufzt Johnson und sinkt neben seinem Arbeitgeber nieder. «Sitzen bleiben und verhungern, oder umkehren.»
    Der Entdeckungsreisende antwortet nicht, aber sein Blick ist schon etwas weicher, weniger unbeirrbar, aus seiner Miene könnte man lesen, daß ihm doch endlich die Stimme der Vernunft ins Ohr flüstert. «Falls wir umkehren», sagt er schließlich fast unhörbar, «wo sollen wir essen, schlafen? Woher Kleider bekommen?» Er blickt auf seine Füße, die nackt und voller Blasen sind. «Tja, und Schuhe. Soll ich vielleicht tausend Meilen barfuß gehen?»
    «Was würden Sie denn sonst machen? Wie würden Sie nach Timbuktu kommen – fliegen? Und selbst wenn Sie hinkämen – was dann? Nein, wirklich. Unsre Chancen sind wesentlich besser, auf dem Rückweg zur Küste von den Mandingos nett behandelt zu werden als von den Leuten in dieser Gegend hier. Dieser
Duti
. Der war kein Kaffer – das war’n Konvertierter. Ein wahrer Gläubiger – ich mein, einer von meinem Schlag, ’n Animist   –, der würd nie wen verhungern lassen. Aber diese verdammten Apostaten, die geben einem ja nicht mal ein Stück Holz zum Kauen, und wenn man der allerletzte Mensch auf Erden wär.»
    Plötzlich ertönt ein Pfeifen aus dem Wald, ganz dünn und leise. Die beiden zucken zusammen, auf alles vorbereitet, rechnen mit dem Schlimmsten. Nichts zu sehen. Blätterbaldachin, Schatten, eine Milliarde schlingpflanzenumrankter Stämme. «Was war das?» fragt der Entdeckungsreisende. «Ein Vogel?» Mechanisch streicht sich Johnson die gelbliche Beule über dem Auge. «Das war kein Vogel», sagt er.
    Da ist es wieder: langgezogen und leise, wie Wind in einem Ofenrohr. «Wer ist da?» ruft Johnson, erst auf mandingo, dann auf arabisch.
    Ein Schatten löst sich aus der allgemeinen Dunkelheit und kommt unentschlossen auf sie zu. Der Entdeckungsreisende, verhungert und verpestet, strengt seine Augen an, die vor Müdigkeit und Resignation ganz schwach sind, er ist fast schon zu hinüber, um noch irgendein Interesse aufzubringen, da wird aus dem Schatten eine große schwarze Frau, die durch das Laubwerk schwebt wie eine Erscheinung. Als sie nur noch ein paar Meter von ihnen entfernt ist, bleibt sie stehen, fluchtbereit wie ein Reh, das im Garten erwischt wird. In der Hand trägt sie eine Kalebasse und ein flaches ungesäuertes Brot. «Wir tun dir nichts, Schwester», sagt Johnson, und dann beugt sie sich über sie, bietet ihnen Brot und
sulu
-Bier an.
    Sie heißt Aisha. Ihr Haar ist zu einem Knoten nach hinten gekämmt, goldene Reifen baumeln an ihren Ohren. Sie sieht aus wie etwa dreißig, trägt eine gestreifte Tunika und Sandalen. Sie ist ihnen aus dem Dorf nachgegangen wo sie die Abweisung durch den
Duti
mit angesehen hat. Er sei ein Verbrecher, sagt sie. Herzlos. Ob sie wohl ihre Gastfreundschaft annähmen?
    Beim Weitergehen, ein wenig mitgenommen von dem plötzlichen Schock, den Brot und Bier seinem Magen versetzt haben, studiert der Entdeckungsreisende ihr Profil genauer: schmaler Hals, ausgeprägte Kieferknochen undOhren so winzig und zart, daß er sich fragt, wie sie so klein geworden sind. Während er sich dieses sonderbare und erstaunliche Phänomen durch den Kopf gehen läßt, bemerkt er die Narben, kaum sichtbare rosa Linien, die die Kontur ihres Kiefers nachziehen und in eleganten Spiralen auf ihren Wangen auslaufen, und dann die blaue Paste, die sie auf die Lider aufgetragen hat, und schließlich die widerspenstigen Haare, die in einer beinahe durchsichtigen Aureole rund um ihren Schädel sprießen. Ohne zu

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