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Wasserwelten

Wasserwelten

Titel: Wasserwelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Lenz
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Zivilisten draußen auf der Straße: »In mir hat die Marine einen guten Fang gemacht.« Kein gravitätischer Ehrbegriff empörte sich da, ich hielt mich wirklich für einen guten Fang der Marine, und deshalb war ich weder gekränkt noch beleidigt; denn was mich mit siebzehn beschäftigte, das waren weniger vorgestellte Konflikte, Ängste, Passionen als reale Ereignisse. Und ich begeisterte mich für die Wirklichkeit, weil sie mir als Spiel erschien: ich lernte das Flaggenalphabet, ich lernte winken und morsen. UngeduldigeAusbilder, die die Sprache der Ausbildungsfibel sprachen, brachten mir Knoten und Spleißen bei, ließen mich Kutter segeln und Boje-über-Bord-Manöver fahren, unterrichteten mich im Zurren der Hängematte und im Gebrauch der Bootsmannspfeife. Ich ergab mich dem trübseligen Fernweh der Shanties, die wir abends sangen. Mit dem Kompaß wurde ich intim. Ich lernte Nähen, Waschen, Haareschneiden, erwarb mir Kenntnisse über das Grußzeremoniell fahrender Schiffe, über Rangabzeichen, Schiffstypen und Bestattungen auf hoher See. Ich zweifelte nicht, daß dies alles zur günstigen Entscheidung des Krieges nötig sei; vor allem war ich still davon überzeugt, daß meine künftigen Heldentaten, die ich für die Marine vollbringen wollte, nur mit Hilfe solider seemännischer Kenntnisse möglich waren. Trotz dieser Kenntnisse blieb ich ein Ich ohne Inhalt, ein emsiger Seemann ohne Tätowierung, ein sogenannter blauer Junge aus dem Bilderbuch, dessen einzige Hygiene in »Körperpflege« bestand. Die Diktate der Erfahrung fanden erst später statt. Ich hatte noch nicht gemerkt, daß jedermann zustieß, was einem einzelnen widerfuhr.
    Die viermonatige Ausbildung ging vorüber, ich erhielt mein erstes Bordkommando, und ich entsinne mich einer angenehmen Erregung beim Betreten des Decks: ich war an dem Ort, der eines Tages stummer Zeuge meiner Heldentaten werden würde. Es war ein schwerer Kreuzer, auf den sie mich kommandierten, die Engländer nannten seinen Typ geringschätzig »Westentaschen-Schlachtschiff«,denn seine Bewaffnung stand in katastrophalem Mißverhältnis zu seiner Panzerung und Geschwindigkeit: mein Gott, mir machte das nichts aus! Und wenn man mich auf eine Dschunke kommandiert hätte – ich besaß nautische Kenntnisse und die glänzende Ahnungslosigkeit, die Heldentum ermöglicht. Angst ist die unschuldigste Form der Reife, und sie besaß ich nicht; vor dem grauen Riesenspielzeug wurde ich zum zweiten Mal zum Pimpf: ich befand mich auf dem nassen Kriegspfad, ein Lederstrumpf zur See.
    Um mich zu legitimieren, mußte ich etwas vollbringen, doch ich erhielt keine Gelegenheit dazu: das graue Ungetüm, das einstweilen nur im gefahrlosen »Idiotendreieck« Swinemünde–Bornholm–Gdingen kreuzte, erwies sich auch nur als Stätte der Ausbildung: ich wurde Ladenummer an einem Fünfzehn-Zentimeter-Geschütz, wurde Kuttergast, erhielt eine Feuer-, Gefechts-, Wach- und Abblendrolle, und die einzige Möglichkeit, mich hervorzutun, bestand bei Schuhappellen, bei Kleider-, Spind- und Sauberkeitsappellen. Da ist es verständlich, wenn ich mich nicht genügend beansprucht fühlte; in mir schlief Lord Nelson, dem sein Trafalgar vorenthalten, vielleicht sogar geraubt wurde. Ich wußte nicht, daß man mich der letzten Reserve zugeteilt hatte, die in einem unvermuteten, späten Augenblick für strahlende Überraschungen sorgen sollte.
    Der Augenblick kam. Er kam bald – und anders, als ich es gedacht hatte – nach dem Tag, an dem die Besatzung auf die Schanz befohlen wurde und der Kommandantvon einem Attentat sprach. Er sprach im Seewind. Es hatte da ein Attentat auf den sogenannten Obersten Kriegsherrn stattgefunden, unzufriedene Offiziere hätten da eine Bombe, die Fäden bis nach Berlin, die Bombe sei hinter dem Rücken der ganzen kämpfenden Front, aber er lebt, denn der Herr oder die Vorsehung oder ein Flügel des Engels des Herrn, weil wir ihn brauchen, mit ihm für Deutschlands Sieg, und aus Dankbarkeit und aus Freude, aus Stolz würden seine Soldaten nicht mehr militärisch, sondern mit dem deutschen Gruß, mit seinem Gruß grüßen und ihr Leben noch freudiger ...
    An diesem Tag stürzte ich aus einer Illusion, ich entdeckte, daß sich der Mann, in dessen Dienst ich als Heldenlehrling stand, nicht auf allgemeine Zustimmung berufen konnte, daß man an ihm zweifelte und offenbar sogar Gründe hatte, ihn zu töten. Ich erfuhr zum ersten Mal, daß man ihm widersprach – also gab es nicht das Wunder

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