Wasserwelten
brauchten zum Krieg nichts dazuzutun, er hatte seine eigene Dramatik, er war in seiner Weise vollkommen als vollkommenes Grauen, das Inferno als Form, der Wahnsinn, der nach letztem Ausdruck verlangte, und wer wollte, wer Zeit, Klarheit oder Herz besaß, konnte sich in ihm erkennen. Er konnte sich und seinem Werk begegnen in verstümmelten Körpern, in der Tränenlosigkeit der Kinder, in untergegangenen Schiffen. Der Krieg ist eine Sache des Menschen, in der er sich wiedererkennen kann: unter Schlägen und Leid findet er sein deformiertes Bild.
Mein Schiff ging im Bombenhagel unter, und mit ihm die Fünfzehn-Zentimeter-Langrohr-Geschütze: die Ladenummer hatte ihre Arbeitsstelle eingebüßt, ich durftean Land. Hin und her geschoben, von neuem ausgebildet an modernen Minen, modernen Torpedos und ichweiß-nicht-was, bis zuletzt gedrillt und quälend beschäftigt mit Aufgaben, die nie erfüllt werden konnten, da Erde, Luft und See verloren waren, wofür wir feierlich und schikanös trainiert wurden: da mieteten sich Kafka und Ionesco in meinen Krieg ein, und Professor Parkinson fand die blendende Bestätigung seiner Lehrsätze. Ich lernte die Paradeaufstellung auf Schiffen, und wir hatten keine Schiffe mehr, man brachte mir die Bedeutung des geschossenen Saluts bei, doch wir besaßen keine Salutkanone, sie unterrichteten uns über die Behandlung von feindlichen Schiffbrüchigen auf hoher See, und wir selbst waren zumindest symbolisch die Betroffenen. Kein Stillstand, kein Atemholen, nur keine Pause, das schien die dringlichste Sorge derer, die das Wort hatten. Sie hielten uns in Bewegung. Sie fürchteten sich vor den Ergebnissen der Stille. Sie ließen uns Ein- und Aussteigen üben und verlegten uns nach Dänemark.
In den letzten Monaten kam ich nach Dänemark, und ich war von nichts mehr beeindruckt. Ich erinnere mich, daß ich gleichgültig auf alles reagierte, was sie mit uns taten. Ich war keineswegs darauf aus, mir heimliche Reservate von Freiheit zu sichern. Ich empörte mich nicht, floh nicht nach vorn, suchte weder mich noch die andern zu rechtfertigen, sondern begegnete allem mit der aufmerksamen Gleichgültigkeit, zu der der Soldat von einem gewissen Punkt an gelangt. Nichts wird mehr verwandelt,bewertet, zur Bestimmung der eigenen Person herangezogen. Man ist klar, offen, nüchtern, doch man sieht keine Aufgabe. Man nähert sich dem Zustand des Minerals.
Ich war in Dänemark und lernte Stillstehen, Warten, Laufen, Wachen, und ich hatte einen Strohsack und ein Kochgeschirr, und das genügte. Es genügte bis zu dem Tag, an dem sie einen erschossen, weil er sich aufgelehnt hatte mit Worten; sie brauchten einen Toten, um uns an ihre Macht zu erinnern, sie brauchten ihn aus pädagogischen und disziplinarischen Gründen; ich erfuhr es und erwachte. Was erhoffte ich mir, was wollte ich erreichen, als ich in einer Nacht mein automatisches Gewehr nahm und in die Wälder ging und mich versteckte? Lossagung vielleicht, eine stillschweigende, beiläufige Art der Lossagung ohne Plan – nicht mehr. Es war ein warmes Frühjahr, und ich streifte nachts durch die Wälder westwärts, verbarg mich am Tag. Sie verfolgten mich nur kurz und lustlos und ließen mich dann allein – zum ersten Mal allein. Ohne Kameraden, Freunde und Nebenmänner, ohne Lehrer, Erzieher, Vorgesetzte, ohne die bergende Anonymität der großen Zahl und ohne geregelte Tage, Nächte und Gedanken: mit neunzehn Jahren hatte ich es erreicht, zum ersten Mal allein zu sein. Ich schlief unter Büschen an Seeufern. Ich schlief in Schuppen und in einem Autowrack. Ich aß allein, wusch mich allein, ruhte und dachte allein. Nur mir gehörte meine Angst, niemand war zuständig für meinen Hunger, ich sicherte für mich, ich plante für mich, ich hoffte für mich: die Welt befandsich mir gegenüber. In Ruhepausen, krank von braunem Rohzucker, der meine Hauptnahrung war, wachsam und tückisch und von Tag zu Tag vorsichtiger, entwarf ich eine Aufgabe für mich allein: ich wollte am Leben bleiben.
»Ich zum Beispiel«, 1966
Die Wracks und die Taucher
Ein Umschlagplatz für bewimpelte Geschichten und Schicksale: das ist der Hafen gewiß auch; doch er ist nicht weniger eine Stätte exemplarischer Katastrophen, ein Ort, zu dem kleines und großes Unglück offenbar seit je dazu gehört. Nicht nur, daß hier die Tragödien verbucht und bemerkt werden, die die freie See heimischen Schiffen bereitet; auch im Hafen selbst endet manche Lebensspur,
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