Wasserwelten
eines kollektiven Gehorsams. Man hatte ihm hier und da das Vertrauen entzogen; das schien mir sehr bedeutungsvoll: ich mußte ihn von nun an beobachten, ich empfand eine neue Art der Aufmerksamkeit für ihn.
Sein Krieg erinnerte sich endlich an mich: wir erhielten überstürzte Einsatzbefehle, dampften dorthin, wo man in Bedrängnis war, und man war überall in Bedrängnis: nächtliche Kriegsmärsche, U-Boot-Alarme, Angriffe sowjetischer Bomber und Torpedoflieger, dekorative Fontänen bei Artillerieduellen über lange Distanz, gemächliches Kreuzen vor Inseln und Küsten mit gelegentlichenBombardements, Geleitschutzfahrten, Beschießungen sowjetischer Panzeransammlungen: sie gaben mir einen Krieg, doch dies war nicht der Krieg, den der minderjährige, heimliche Admiral, der meinen Namen trug, sich gewünscht hatte. Was hatte ich mir gewünscht? Einen Spielzeugkrieg vielleicht, in dem alle mitspielten: die Schiffe spielten nur versenkt, die Verwundeten spielten nur Verwundete, und die Toten spielten nur Tote, so wie ich es einst als Kind getan hatte auf den sandigen Exerzierplätzen von Lyck. Ich war ratlos, ich war fassungslos und war verzweifelt, denn die Schiffe, die einmal versenkt worden waren, erhoben sich nicht vom gleichmütigen Grund der See; das Stöhnen der Verwundeten erfüllte die Decks und war wirklich, und die Toten stiegen nicht übers Fallreep an Bord zurück. Eine Gelegenheit zum unblutigen Erwerb von Ruhm gab es nicht. Ich bekam keinen Gegner zu Gesicht, er schickte nur seinen Tod herüber, so wie wir unsern weitreichenden Tod zu ihm schickten, und ich sah die Wirkungen auf unserer Seite: ich hatte sie nicht begehrt. Zuerst dachte ich, endlich erlebe ich etwas; dann, mitten in der Arena, mitten in den Wirren und Untergängen und Katastrophen, verlor ich meine Arglosigkeit, und die Erlebnisse hinterließen einen hellen Schrecken und einen unbekannten Schmerz.
Wir liefen in den Seekanal nach Königsberg ein. Wir verlängerten das Sterben in der Festung Königsberg, indem wir den Verteidigern mit unseren schweren Geschützen halfen. Wir stellten Landkommandos, die auf Schneefeldern, auf vereisten Piers Verwundete bargen.
Wir fuhren auf kleinen Schlitten Tote zum Pillauer Friedhof und begruben sie nicht: wir mußten an Bord unseres Schiffes zurück, wo Schuh-, Kleider- und Spindappelle angesetzt waren. Ein alter sächsischer Seemann lenkte meinen Blick auf Hitlers Bild und sagte: Mit dieser Visage zum Sieg, Kleiner – und ich protestierte nicht, die Bemerkung lähmte mich nicht, ein ruhiges Mißtrauen hatte mich bereits unterwandert. Ich war ein Gefangener des Augenscheins. Ich mußte die Tode anerkennen, die Verzweiflung der Flüchtlingstrecks, die Schiffstragödien. Ich konnte nicht wegsehen von treibenden Trümmern, von flammenden Parolen, von Gehenkten in kahlen Bäumen und den Spieren gesunkener Lazarettschiffe, die schwarz über der winterlichen Einöde der Ostsee standen: der Augenschein veränderte mich. Solange ich darauf aus gewesen war, blitzenden Ruhm zu erwerben, hatte ich den Tod als schüchternen Abteilschaffner angesehen; nun, da er mich umgab, erschien er mir als versteinerter Chef, der nur den Zeigefinger auszustrecken brauchte, um alle Hoffnungen zu zerstören.
Ich denke, wir waren sein Flaggschiff: der letzte intakte schwere Kreuzer, der noch in der Ostsee schwamm, und ich tat Dienst auf ihm. Ich ging U-Boot-Ausguck, ich verrichtete die Arbeit einer Ladenummer, ich fuhr nächtliche Kuttermanöver und lernte, im Stehen zu schlafen. Ich erwarb mir die redliche Müdigkeit, die ich bei meinen Ausbildern im Wehrertüchtigungslager so bestaunt hatte. Die Kette der Erinnerung ist nicht gebrochen: Bilder von hastiger Munitionsübernahme bei Scheinwerferlicht tauchenauf, bissige Angriffe sowjetischer Schlachtflieger, riskante Zickzackfahrten und vorbeiflitzende Torpedos, und dann ein klarer Wintermorgen, gepfiffene Kommandos, der alte sächsische Seemann, den der Bordwachtmeister vor versammelter Besatzung verhaftete wegen »Zersetzung der Wehrkraft«: er hatte mit einer Bierflasche nach Hitlers Bild geworfen.
Ich fragte mich: welche Rolle spielte Hitler selbst dabei, und ich wußte es nicht, ich erfuhr nur die Auswirkungen seiner unbeweglichen, unvergleichlichen Rachsucht. Lord Nelson in mir starb einen unbemerkten Tod, und Lady Hamilton, die aus Pflichtgefühl den Hochsprung trainierte und mir unverzagte Feldpostbriefe schrieb, empfing überrascht meinen formulierten Zweifel.
Wir
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