Watch Me - Blutige Spur (German Edition)
schien jedoch im Moment weniger wichtig zu sein als die Tatsache, dass sie nicht allein war. Ein Mann stand am Fenster und blickte hinaus. Sie war sich ziemlich sicher, dass er es war, der den Rasierwasserduft verströmte.
Von diesem Duft ging etwas Beunruhigendes aus, ebenso wie von der Anwesenheit des Mannes.
Kannte sie ihn? Er kam ihr vage vertraut vor, aber sie konnte keinen Zeitpunkt, Ort oder Namen mit ihm verbinden. Er hatte widerspenstiges schwarzes Haar und einen schlanken, muskulösen Körper mit breiten Schultern. Die gebräunte Haut hatte einen leichten goldenen Schimmer. Wohlgeformte Arme steckten in den kurzen Ärmeln eines weißen T-Shirts, und – sie neigte den Kopf, um besser sehen zu können – die Jeans standen ihm besser, als sie es je bei einem anderen Mann gesehen hatte.
Sie bezweifelte, dass dieser Gedanke ihr in den Sinn gekommen wäre, wenn sie an der Schwelle zum Tod stehen würde.
Er rührte sich, schien aus dem Augenwinkel wahrzunehmen, dass sie wach war, und drehte sich um.
Sie kannte ihn. Niemals würde sie dieses Gesicht vergessen. Es war Cain Granger.
„Gott sei Dank!“, flüsterte er und eilte zu ihr ans Bett.
Bei der Erleichterung und Besorgnis, die sein Verhalten verriet, fragte sie sich, ob sie einen Filmriss hatte und vergessen hatte, dass sie Freunde geworden waren.
„Was … ist … passiert?“ Sie musste die Worte aus einer engen kratzigen Kehle herauszwingen, aber immerhin tat es nicht mehr weh. Der Schmerz war einer Art schwerelosen Euphorie gewichen, was den Schluss nahelegte, dass sie unter dem Einfluss starker Medikamente stand.
Er nahm ihre Hand und spielte mit den Fingerspitzen, als würden sie einander viel besser kennen, als es tatsächlich der Fall war. „Erinnerst du dich nicht?“
Die ganze Geschichte bekam Sheridan nicht zusammen, aber ihr kamen bruchstückhaft einzelne Szenen in den Sinn -ein Paar schlammiger Stiefel, eine Schaufel, Regen. Dann war da noch ein Bild, das bis auf den damit verbundenen Schmerz ganz und gar nicht schlecht war: eine kräftige Brust und sehnige Arme, die sie hielten, ein weiches Bett und derselbe Duft, den sie gerade beim Aufwachen wahrgenommen hatte. „Du … ich war … in deinem Bett.“
„Stimmt. Kurz.“
„Aber … du warst es nicht … der mir das angetan hat.“ Sie kämpfte gegen die Verwirrtheit an, die sie zu überwältigen drohte.
Der düstere Gesichtsausdruck verstärkte den ungestümen Ausdruck seiner grünen Augen noch. „Nein. Ich habe dich gefunden, nachdem du verletzt worden bist. Derjenige, der es getan hat, ist davongerannt. Wer immer es war.“
„Oh.“ Das ergab Sinn. Irgendwann hatte sie sein Gesicht auf jeden Fall gesehen. Und sie hatte einen Hubschrauber gehört.
„Erinnerst du dich jetzt?“, hakte er nach.
Er schien gespannt auf ihre Zusicherung zu warten, aber ehe sie die verschiedenen Erinnerungsfetzen, die ihr im Kopf herumschwirrten, zu einem Bild zusammensetzen konnte, tauchte in der Tür ein kleiner dicklicher Mann in Polizeiuniform auf.
„So was aber auch! Sie ist aufgewacht!“, brüllte er und nahm seinen Cowboyhut ab, als er den Raum betrat.
In Kalifornien würde sie nicht unbedingt einen Cop mit Cowboyhut erwarten, aber hier war das gar nicht so ungewöhnlich. Vielleicht hätte sie gelächelt, wenn Cains angespannter Gesichtsausdruck ihr nicht verraten hätte, dass er gar nicht erfreut über die Unterbrechung war. Er ließ ihre Hand los und trat einen Schritt zurück.
In den wenigen Sekunden, die es brauchte, bis ihr neuer Besucher ihr Bett erreicht hatte, stellte Sheridan fest, dass sie diesen Mann ebenfalls kannte. Sie war mit ihm zur Highschool gegangen, genau wie mit Cain. Doch anders als Cain hatte er bereits einen Großteil seiner Haare eingebüßt und eine Menge Gewicht zugelegt.
„Ned?“, fragte sie unsicher.
„HÜ“ Er hielt den Hut mit einer fleischigen Hand fest, legte die andere auf die Gitterstäbe am Bett und lächelte, wobei er wie früher seine Zahnlücke entblößte. Seine Zwillingsschwester hatte eine ähnliche Lücke – dafür, dass sie zweieiig waren, sahen sie einander ziemlich ähnlich. Es sei denn, sie hatte die Zähne richten lassen, seit Sheridan sie zuletzt gesehen hatte. „Und wie geht’s unserer kleinen Lady?“
Sie sah kurz zu Cain hinüber, aber der hatte den Blick abgewandt. Er hatte seinen Posten an der Wand wieder eingenommen und starrte nachdenklich aus dem Fenster. Sie konnte sein Profil erkennen, die langen dunklen
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