Watch Me - Blutige Spur (German Edition)
nahm einen Putzlappen aus der Schublade neben der Spüle und begann, den Tisch abzuwischen. „Woher weißt du,
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wie lange sie schon in der Stadt ist? Hast du mit ihr gesprochen?“
„Nein. Amy hat das Datum auf Sheridans Vertrag mit der Mietwagenfirma gesehen.“
„Wer immer es war, er hat schnell gehandelt.“
Tigers Miene wurde grimmig. „Er ist eindeutig mit einer bestimmten Absicht hierhergekommen.“
„Die Frage ist warum? Warum Sheridan? Und warum jetzt?“
„Das kann ich dir nicht sagen. Ich meine, wir waren nicht gerade die dicksten Freunde.“ Als ihm bewusst wurde, was er da gerade eingeräumt hatte, schob er eilig nach: „Aber ich hätte sie nie überfallen.“
Cain stellte die Tüte mit ihren Habseligkeiten auf den Tisch, den er gerade sauber gemacht hatte, und wischte die Stühle ab. „Hattest du in den letzten Jahren überhaupt Kontakt zu ihr?“
„Nee. Ich glaube, niemand hatte Kontakt zu ihr. Sie war ziemlich durchgeknallt, als sie weggezogen ist. Die ganze Familie war durchgedreht. Sie haben gepackt und sind verschwunden und haben nie zurückgeblickt.“
Cain warf den Lappen in die Spüle. „Sie ist ohne jeden Grund angeschossen worden, und sie hat meinen Stiefbruder sterben sehen. Das würde jeden traumatisieren.“ Er wappnete sich gegen den stechenden Gestank, nahm eine weitere Tüte, stopfte das verdorbene Fleisch hinein und trug es hinaus zum Müll.
„Und wie ist sie so?“, fragte Tiger, als er wieder hereinkam. „Hat sie sich sehr verändert?“
Sie war noch schöner geworden. Und wahrscheinlich war sie sexuell nicht mehr ganz unerfahren. Aber Cain hatte nicht vor, diese Gedanken laut auszusprechen. Im Besenschrank neben der Tür fand er einen Besen und begann zu fegen. „Ich weiß nicht. Sie ist ziemlich durcheinander, seit das passiert ist.“
„Interessant, dass sie jetzt bei dir wohnt.“
„Warum?“ Cain hielt inne und blickte zu ihm hoch.
„Ich hatte schon immer das Gefühl, dass sie dich mag.“
Nein. Sie hatte versucht, es ihren strengen Eltern heimzuzahlen, indem sie genau das getan hatte, wovor sie solche Angst hatten. Zumindest redete Cain sich das ein. Es war die einzige Erklärung, bei der er sich besser fühlte, weil er sie nach dieser einen Begegnung ignoriert hatte. „Wie kommst du denn darauf?“
„Als sie mit mir Schluss gemacht hat, sagte sie mir, es gäbe einen anderen, aber sie ist nie mit jemandem ausgegangen. Jeder andere Kerl hätte sie sich sofort geschnappt.“
Cain widmete sich wieder dem Besen. „Das war doch nur eine Ausrede, um dich loszuwerden.“
Tiger ging nicht auf den Witz ein. „Vielleicht, aber ihre kleine Schwester hat einmal eine interessante Bemerkung gemacht.“
Cain war nicht sicher, ob er hören wollte, was Leanne gesagt hatte. Das Vertrauen, das Sheridan ihm in jener Nacht vor langer Zeit entgegengebracht hatte, hatte ihn erschreckt. Es wäre ihm lieber, wenn er keinen Beweis dafür hätte, dass tiefere Gefühle dahintergestanden hatten. Dann würde es ihm nur noch schwerer fallen, sich einzureden, dass es für sie nur ein Akt der Rebellion gewesen war. „Kleine Schwestern erzählen viel, wenn der Tag lang ist.“
Tiger zögerte, doch dann schien er es so hinzunehmen. „Stimmt. Ihr beide wart auf der Highschool so verschieden, dass ich mir euch ohnehin nicht zusammen vorstellen konnte.“
Das war Cain genauso gegangen. Und trotzdem …
„Nett von dir, dass du das für sie machst“, sagte Tiger.
Warum tat er das eigentlich? Warum ließ er sich immer tiefer in die Sache hineinziehen? Er hörte die unausgesprochene Frage in Tigers Worten mitschwingen, aber er begriff es selbst nicht ganz. Vielleicht lag es daran, dass das Mädchen, das alles hatte, zum ersten Mal in ihrem Leben jemanden brauchte - ihn brauchte. „Es wäre nicht sehr schön, wenn sie das alles sehen müsste, wenn sie nach Hause kommt – nach allem, was sie durchgemacht hat.“
„Sie kommt also hierher zurück?“
„Ich nehme es an – sobald sie wieder fit genug ist.“
„Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich bei Gelegenheit mal bei dir vorbeischaue, um sie zu besuchen?“
Cain wollte nicht, dass irgendjemand sie belästigte. Nicht in den nächsten Tagen. Aber er wusste, dass Tiger in ein Nein mehr hineininterpretieren würde als schlichte Sorge um ihr Wohlergehen. „Nein, natürlich nicht.“
„Okay. Ich komme demnächst mal vorbei.“
Nachdem Tiger verschwunden war, fegte, saugte und wischte Cain, bis alles sauber war.
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