Watermind
standen die Leichter bereit, um das Wehr zu blockieren, sobald das Kolloid hindurchgegangen war, aber es erstreckte sich über eine Länge von tausend Metern, und das Ende war noch nicht abzusehen. Es ergoss sich wie zähflüssiges Öl in den Überlaufkanal, dämpfte das Knacken der Baumstämme und warf Picknicktische durcheinander. Wo es Hindernisse umströmte, blieb es durch seine starke Oberflächenspannung glatt und ungeteilt. Elmsfeuer huschte wie glühende Spinnen darüber hinweg, und das überirdische Leuchten fluoreszierte an den Deichen.
Roman konzentrierte sich auf den Auffangdamm. Mit den Reihen aus blauen Spundwänden und gelben Säcken sah er wie ein Zirkuszelt aus, aber er stand und war so stabil, wie Menschen ihn bauen konnten. Das Ingenieurcorps hatte die nötigen Größenverhältnisse berechnet, um das gesamte Kolloid einfangen zu können. Wenn es eingesperrt war, blieben Reilly fünf Minuten, um ihre Probe zu beschaffen. Selbst sie hatte eingesehen, dass sie danach keine weiteren Verzögerungen riskieren durften. Sie mussten das gesamte Volumen zerstrahlen, bis kein einziger Chip mehr aktiv war.
Aber es hatte an Volumen zugenommen. Es schien sogar von Sekunde zu Sekunde größer zu werden. Roman überblickte die Fläche und stellte ein paar schnelle Kopfrechnungen an. Das Ausmaß des Kolloids hatte ihre schlimmsten Vorhersagen übertroffen. Der Damm war zu klein. Innerhalb weniger Minuten würde das Kolloid darüber hinwegfließen, und dann war es – ilimitado . Nichts konnte es noch davon abhalten, die Meere zu verpesten und sich vom Regen ausbreiten zu lassen.
Feuert jetzt!, schrien seine Gedanken.
»Der Damm wird nicht halten.« Jarmond schlurfte hin und her und knirschte buchstäblich mit den Zähnen. »Das Kolloid ist schneller gewachsen, als wir vorausberechnet haben.«
»Mein Handy ist tot. Ich werde es über Festnetz versuchen.« Lima rannte den Steg hinunter und zum Büro des Rangers.
Roman nahm Dréclare das Funkgerät ab. Nichts funktionierte mehr, nicht einmal die Signalanzeige. Das Kolloid strahlte viel zu hell. Roman machte sich ebenfalls auf den Weg zum Büro. Als er die Eingangstür aufriss, erlebte er, wie Lima die Computer verfluchte. Die Bildschirme starrten wie blinde Augen.
»Der Strom ist weg. Wir haben keine Verbindung mehr.« Lima warf das Telefon auf den Schreibtisch. »Totaler Kommunikationsausfall.«
Der Damm war einen knappen Kilometer entfernt. Roman nickte. »Ich werde rennen.«
104
Sonntag, 20. März, 12.46 Uhr
Auf dem Sumpfboot fiel CJ vornüber und legte die Finger auf den Mund. Sie hatte keine Ahnung, dass Dan Meir soeben gestorben war. Sie wusste nur, dass das Kolloid durchs Wehr floss. Zwanzig glasgrüne Zungen schoben sich durch die Buchten, heller als Spiegel. Wo sie über Beton flossen, zuckte ein smaragdgrünes Blitzgewitter, und als sich die Emulsion unterhalb des Wehrs wieder vereinigte, stiegen Lichttröpfchen auf, wie umgekehrter strahlender Nieselregen.
»Wunderschön«, sagte Martin.
»Ja«, bestätigte CJ.
Immer noch strömte es durch die Buchten in den tiefer liegenden Kanal und schob das braune Flusswasser in mächtigen zwei Meter hohen Wellen vor sich her. Bald füllte die leuchtende Emulsion das Becken in ganzer Breite aus. Es schimmerte wie ein Quecksilbersee. Die Menge auf den Deichen zog sich weiter zurück, und mit fast gletscherhafter Langsamkeit bewegte sich der vordere Rand den Abhang hinunter. Es verfing sich an Felsen und Vegetation und nutzte den Reibungswiderstand, um seine Bewegung zu verzögern. Aber nicht einmal das Kolloid konnte sich auf Dauer der Schwerkraft widersetzen.
CJ setzte die Kopfhörer auf und überprüfte ihren Laptop. Der Generator an der Basis des Wehrs war durchgebrannt. Offenbar hatte das elektromagnetische Feld des Kolloids die Schaltkreise überlastet. Aber die fünfzehn anderen Generatoren vor dem Damm aus Sandsäcken sendeten weiter pulsierende Musik.
Wie ein gigantischer Quecksilbertropfen glitt das Kolloid die Neigung des Überlaufkanals hinunter und verdrängte das Flusswasser. Der vordere Rand wölbte sich tief unter die braunen Wellen wie eine Kaltluftfront. Als die ersten Wogen CJs Sumpfboot trafen, schaukelte es wild auf und ab, und CJ musste schlucken, um sich nicht zu übergeben. Am Damm hinter ihr ächzte der Berg aus Holzpflöcken wie ein Schiffswrack.
Das Kolloid war so nahe, dass sie einzelne Blitzadern sehen konnte, die durch seine inneren Schichten schossen. Dann bemerkte sie, wie
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