Watermind
hin und her und entzog sich ihrem Zugriff.
Und zu allem Überfluss bekam Rory keine vollständige Nachtschicht zusammen. Drei seiner besten Arbeiter hatten sich krankgemeldet, und einer hatte gekündigt. Mr. Meir akzeptierte weiterhin Überstunden, aber Rory fand einfach nicht genug Leute für das Team. Außerdem hatte er das verpackte matschige Essen von Shrimp Hut mehr als satt. Er wollte nach Hause zu seiner Frau und ihren gebratenen Wels mit Löffelbrot essen. Er wollte sich zwischen ihre warmen, cremigen Schenkel kuscheln und seine Nase an ihrem dicken Bauch reiben. Er konnte beinahe ihre salzige Haut schmecken.
»Merton, holen Sie Ihren Handwagen und helfen Sie dem Gelehrten.«
Während Merton Voinché und Betty DeCuir die wissenschaftlichen Apparate aufluden und zu einem wartenden Quimicron-Boot transportierten, setzte sich Rory auf einen Eisenpoller, zog ein Knie an und bearbeitete seinen linken oberen Schneidezahn mit einem Zahnstocher. Die Leute hatten Angst, deshalb wollten sie nicht arbeiten. Einige raunten etwas von einem Teufel im Wasser. Von Loa - Geistern und djab dile. Er hatte sie dabei belauscht. Er löste ein Stück Shrimpfleisch aus dem Zahnzwischenraum und rollte es auf der Zunge herum. Gestern hatte sich der junge Alonzo die Hände im Wasser verbrannt, aber Mr. Meir hatte die Sache vertuscht. Rory berührte das Kreuz, das er unter dem Hemd trug, und flüsterte zur Jungfrau Maria. »Mutter Gottes, bete für uns Sünder …«
Li Qin Yue schloss die Augen und horchte auf die Geräusche des Kanals. Sie lag auf dem Rücken im Quimicron-Boot, um den Transport ihrer Ausrüstung zu überwachen und sich die Knochen von der Restwärme des Decks aufheizen zu lassen. Wind kräuselte das Wasser, wechselte die Beschaffenheit der Oberfläche von Seide zu Samt und ließ das Boot in leichten Druckwellen schaukeln. Schwapp. Schwapp. Schwapp. Das Boot bewegte sich im gleichen Rhythmus, der einst schon Kleopatra auf einem anderen Fluss, ein Weltmeer entfernt, getröstet hatte.
In der Ferne war die Refuerzo dabei, die Plastikabsperrung neu zu positionieren. Die Maschinen des Schiffs heulten. Li Qin fühlte sich sehr müde. Sie schlief nie besonders gut, aber seit sie nach Baton Rouge gekommen war, hatte sie fast gar nicht geschlafen. Heute war ihr Geburtstag. Sie wurde neunundfünfzig, aber das wusste niemand. Neunundfünfzig Jahre alt und trotzdem nur eine bessere Laborantin.
Schwapp. Schwapp. Das warme Deck schaukelte wie eine Hängematte und lullte sie ein, während das letzte Sonnenlicht eine dunkle Purpurfärbung annahm. Nur für einen kurzen Moment wollte Yue ihr Alter vergessen, ihre Karriere, die sich auf dem absteigenden Ast befand, ihre leere Wohnung – in der es keine einzige Zimmerpflanze gab, weil sie zu selten zu Hause war, um sie gießen zu können. Roman Sacony bezahlte ihr zweihunderttausend Dollar pro Jahr, damit sie sich für ihn zur Verfügung hielt. Für nur zweihunderttausend hatte sie ihr Leben, ihre Seele und ihre Chancen verkauft. Sie war fast alt genug, um seine Mutter sein zu können. Warum blieb sie Jahr für Jahr seine Sklavin, obwohl er sie nie mehr anschaute, nicht so, wie er es früher einmal getan hatte?
Trotzdem hatte sie für ihn die Wärmeenergie gefunden. Die Wärmeenergie, die ihn so sehr beschäftigte. Wie konnte das Kolloid Eis bilden? Wie wurde die Wärme absorbiert? Endlich konnte sie ihm eine Antwort geben, zumindest theoretisch. Die Wärme steckte in den Blasen.
Im Kolloid hatte sie suspendierte mikroskopisch kleine Blasen gefunden, die aus FCKW bestanden. Fluorchlorkohlenwasserstoffe, die für die Zerstörung der globalen Ozonschicht berüchtigt waren. Sie wurden als Treibgas in Sprühdosen und als Kühlmittel benutzt. Wenn FCKW Wärme aufnahm, bildete es Gasblasen. Wenn es die Wärme abgab, wurde es flüssig. Damit war es eine ideale Substanz für Kühlungssysteme.
Seit den frühen 1930ern hatten die Menschen alte Kühlschränke und Klimaanlagen in den Fluss geworfen, und im Devil's Swamp mussten sie zu Hunderten angespült worden sein. Ob zufällig oder durch eine ungewöhnliche Verknüpfung von Ereignissen war das allgegenwärtige Proplastid mit Mikroblasen aus FCKW gesättigt. Und die elektrostatische Ladung leitete Wärme in den FCKW-Schaum hinein und wieder hinaus – offenbar gewollt.
Gewollt. Yue ließ sich das Wort durch den Kopf gehen. Sie wischte sich mit einer Hand über die Wange. Bald würde sie Roman anrufen, um ihm die Neuigkeit mitzuteilen.
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