Watersong - Wiegenlied: Band 2 (German Edition)
auch bemühte, bei der Erinnerung an den Toten den großherzigen, freundlichen Mann heraufzubeschwören, der er zu Lebzeiten gewesen war, kam ihr doch immer nur das letzte Bild von ihm in den Sinn: sein aufgeschlitzter, blutender Leichnam auf der Insel, die sein geliebtes Zuhause gewesen war.
Harper trat mit ihrem Vater in den Vorraum und blieb neben ihm stehen, als er sich von seinem alten Freund verabschiedete und sanft mit der Hand über den glatten Holzsarg strich.
» Ich wünschte, wir hätten in den letzten Jahren mehr Zeit mit ihm verbracht«, sagte Brian. Er weinte nicht, noch nicht, schniefte aber, und seine Stimme klang belegt.
» Ich auch«, gab Harper zu.
Brian schob die Hände in die Taschen und schüttelte den Kopf. » Gemma sollte jetzt hier sein.«
» Ja, das sollte sie.«
Harper hatte gehofft, ihr Vater würde Gemma heute nicht erwähnen, aber er hatte recht. Ihre Schwester sollte hier sein.
Sie fragte sich, ob Gemma überhaupt von Bernies Tod wusste. Dass sie draußen auf der Insel gewesen war, musste nicht heißen, dass sie seinen Leichnam gesehen hatte.
Da bohrte sich ein neuer, widerlicher Gedanke in ihr Gehirn: Vielleicht hat Gemma etwas mit Bernies Tod zu tun.
Sofort verwarf Harper diese Vorstellung wieder. Ihre Schwester könnte keiner Fliege etwas zuleide tun und schon gar nicht jemandem, den sie so gerngehabt hatte wie Bernie.
Allerdings hatte Harper aus erster Hand gesehen, wozu die Sirenen fähig waren, nicht nur bei Bernie, sondern auch bei Luke Benfield und den anderen Jungen, die sie umgebracht hatten. Die Sirenen waren abgrundtief böse, deshalb war es nicht ganz unsinnig anzunehmen, dass Gemma nun vielleicht ebenfalls zu schlimmen Taten fähig wäre.
Die Andacht sollte gleich beginnen. Brian und Harper setzten sich auf ihre Stühle. In der kleinen Kapelle des Bestattungsinstituts waren etwa dreißig Klappstühle aufgestellt, die meisten davon leer. Da Harper und Brian in den letzten Jahren Bernies engste Freunde gewesen waren, hatten sie in der ersten Reihe Platz genommen.
Der Pfarrer hielt eine kurze Predigt und lud dann die Gäste ein, auch ein paar Worte beizutragen. Harper hatte nicht erwartet, dass ihr Vater etwas sagen würde, aber als sonst niemand aufstand, erhob sich Brian schließlich und trat vor den Sarg.
» Ich, ähm, heiße Brian Fisher«, sagte er und räusperte sich. » Die meisten von euch kennen mich von meiner Arbeit im Hafen und vermutlich kanntet ihr daher auch Bernie.«
Brian hielt beim Sprechen den Blick gesenkt, um die Tränen in seinen Augen zu verbergen. Als er Harper kurz ansah, lächelte sie ihm aufmunternd zu, und das schien ihm Mut zu machen.
» Ich kannte Bernie nun schon seit zwanzig Jahren.« Er deutete auf den Sarg hinter ihm. » Er war ein sehr fleißiger Mensch und hat in den Jahren, in denen wir zusammengearbeitet haben, kaum mal einen Tag bei der Arbeit gefehlt. Er hat mich in den Docks unter seine Fittiche genommen und wurde bald auch außerhalb der Arbeit zu einem guten Freund. Als meine Frau…« Brian blieben die Worte im Hals stecken, und er hielt kurz inne, um sich zu sammeln. » Er, äh, hat sich um meine Mädchen gekümmert, als ich das nicht konnte, und dafür werde ich ihm immer dankbar sein. Ich weiß nicht, was ohne ihn aus meiner Familie geworden wäre.«
Tränen stiegen Harper in die Augen, während sie den Worten ihres Vaters lauschte.
» Vor ein paar Tagen hatte ich noch das Vergnügen, ihn zu sehen«, fuhr Brian fort. » Er war fröhlich und aktiv wie immer. Er hatte noch so viel Leben in sich.« Er atmete tief aus und wandte sich dann an den Sarg. » Wenigstens bist du jetzt bei deiner Frau, Bernie. Ich weiß, du hast lange darauf gewartet, sie wiederzusehen.«
Er schaute den Pfarrer verlegen an. » Das ist eigentlich alles, was ich zu sagen habe.«
Der Pfarrer bedankte sich bei ihm, während Brian eilig zu seinem Stuhl zurückkehrte und sich mit einem Seufzen neben Harper plumpsen ließ. Sie schlang den Arm um ihn und legte den Kopf auf seine Schulter.
» Das war echt toll von dir, Dad«, lobte sie ihn. » Bernie hätte das bestimmt gefallen.«
Kurz danach war die Andacht beendet. Der Pastor lud die Trauergäste ein, noch auf den Friedhof zu kommen und der Bestattung des Sargs beizuwohnen, doch die meisten zogen es vor zu gehen.
Brian und Harper waren auf dem Weg zu ihrem Wagen, als ein Mann in einem grauen Anzug zu ihnen trat. Er kam ihnen bekannt vor, aber das galt für fast jeden in Capri. Die Stadt war
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