Watersong - Wiegenlied: Band 2 (German Edition)
sie sich auf der Stelle mit ihm an einen dunklen, ruhigen Ort verkrochen und sich seiner warmen Stimme und seinen starken Armen hingegeben. Sie wollte von ihm gehalten und geküsst werden, bis sie nur noch ihn spürte und den Schmerz in ihrem Innern vergessen hatte, das Leid, das sie darüber empfand, ihre Schwester verloren und ihre Familie enttäuscht zu haben.
Und genau aus diesem Grund schüttelte sie nun den Kopf. Sie wollte Daniel so gerne als Ablenkung benutzen, aber das war nicht fair, weder ihm gegenüber noch ihr selbst. Sie musste mit dem Chaos in ihrem Leben klarkommen, anstatt sich davor zu verstecken, auch wenn Verstecken im Moment deutlich verlockender klang.
» Ich glaube, das ist keine gute Idee«, sagte sie deshalb.
Sie hätte ihm gerne ins Gesicht geschaut, begnügte sich aber damit, den Blick von seinen ausgetretenen Chucks zu seinem Oberkörper wandern zu lassen. Heute trug er ein T-Shirt und die schwarzen Linien seines Tattoos zogen sich unter dem Ärmel hervor bis zum Ellbogen.
Seit er ihr am Sonntag in Bernies Haus geholfen hatte, spürte Harper den eigenartigen Drang, diese dunklen Linien mit ihren Fingern nachzufahren. Letzte Nacht hatte sie sogar davon geträumt:
Sie lag mit Daniel in einem Bett, vermutlich das größte Bett, das sie je gesehen hatte. Es nahm fast den gesamten Raum ein. Der Raum an sich war vollkommen weiß. Ein grelles, reines Weiß. Draußen rauschten die Wellen und Harper roch das Meer. Balkontüren, die vermutlich zum Strand führten, standen weit offen, und hauchzarte Vorhänge bauschten sich im Wind.
Daniel lag mit nacktem Oberkörper neben ihr im Bett, die Decke bis zur Hüfte gezogen. Er sah sie nicht an, sondern schaute zum Meer. Harper legte den Kopf auf seine Schulter und fuhr mit dem Finger über seine Tätowierung, spürte den schwarzen Linien nach, die sich an seinen Narben entlangzogen. Er schwieg, während Harper ihm ein Gutenachtlied sang.
Da hörte sie auf einmal die Stimme ihrer Schwester, die von überall und nirgends zugleich zu kommen schien. Gemma sagte nur: » Wach auf!«, und Harper erwachte. Sie schlug die Augen auf und fand sich allein in ihrem Bett wieder.
Vielleicht war sie deshalb so durch den Wind. Es war, als hätte Gemma sie gewarnt, dass die Zeit knapp würde und Harper aufhören solle, ihre Zeit mit einer albernen Verliebtheit zu vergeuden.
» Harper«, seufzte Daniel frustriert, » wir müssen reden. Es geht um Gemma.«
Da schossen ihre Augen zu seinem Gesicht empor und endlich sah sie ihn an. Er sah ernst aus, aber es lag auch Hoffnung in seinem Blick, als hätte er vielleicht gute Neuigkeiten. Und eigentlich war zu diesem Zeitpunkt jede Nachricht über Gemma eine gute Nachricht.
» Was ist mit ihr?«, fragte Harper. » Hast du von ihr gehört?«
» Nicht direkt.« Er griff hinter seinen Rücken und zog eine zusammengerollte Ausgabe der USA Today aus der Hosentasche. » Aber das solltest du dir ansehen.«
» Was?« Sie ließ die Bücher auf das Regal plumpsen und riss ihm die Zeitung aus der Hand, ehe er weitersprechen konnte.
Die Titelgeschichte drehte sich um einen Politiker, der bei einem Seitensprung mit einer B-Prominenten ertappt worden war, und die kleineren Artikel auf der unteren Hälfte handelten von der Wirtschaft und davon, wie die Leute den Unabhängigkeitstag am kommenden Wochenende feiern würden.
» Was hat das mit Gemma zu tun?«, wollte Harper wissen.
» Nicht das. Gib mal her.«
Daniel nahm ihr die Zeitung aus der Hand und breitete sie auf dem Regal aus. Er schlug die dritte Seite auf, strich sie glatt und deutete auf eine Spalte am Rand.
Jungen sterben nicht , lautete die Schlagzeile, mit der Unterzeile: Warum die Medien kein Interesse zeigen, wenn männliche Jugendliche getötet werden.
» Sexismus in den Medien? Was hat das mit Gemma zu tun?«, spottete Harper.
» Willst du nicht weiterlesen?«
Sie sah ihn unsicher an und richtete den Blick wieder auf die Zeitung. Nach ein paar Zeilen schon erkannte sie die Verbindung, begriff aber dennoch nicht recht, wie ihnen das helfen sollte, Gemma zu finden.
Der Reporter hatte den Fall der toten Jungen in Capri aufgegriffen und einen kurzen Artikel über die brutalen Morde an vier männlichen Teenagern geschrieben. Allerdings drehte sich die Geschichte weniger um die Morde als um die Frage, warum die Medien nicht darüber berichteten.
Harper musste zugeben, dass die Geschichte nur wenig Aufsehen erregt hatte. Außer ein paar örtlichen Journalisten waren
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