Watersong - Wiegenlied: Band 2 (German Edition)
überlegte, ob sie rangehen sollte. Ein Teil von ihr wollte unbedingt. Sie musste sich eingestehen, dass sie große Lust hatte, seine Stimme zu hören, auch wenn sie nicht unbedingt eine Schulter zum Weinen brauchte.
Doch ihre Vernunft behielt die Oberhand und sie drückte den Anruf weg. Vielleicht hatte er sogar Neuigkeiten von Gemma, aber dann würde sich Harper vor ihrem Vater nicht zusammennehmen können.
Falls er etwas herausgefunden haben sollte, würde er ihr eine Nachricht hinterlassen, und Harper würde sie abhören, sobald sie außer Hörweite ihres Vaters war. Und wenn nicht, dann hätte der abgewiesene Anruf sie zumindest davor bewahrt, mit ihm reden zu müssen. Sie wollte sich von ihm nicht von ihrer Suche nach Gemma ablenken lassen.
» Wer war das?«, fragte Brian hoffnungsvoll.
» Das war nur, äh… Marcy von der Arbeit.« Harper stand jäh auf und schob das Handy in ihre Tasche. » Entschuldige, Dad, ich fühl mich nicht so besonders. Ich glaube, ich lege mich hin.«
Brian wollte noch etwas sagen, aber Harper war schon aus der Küche und rannte die Treppe hoch. Sie ging jedoch nicht in ihr Zimmer, sondern schaffte es gerade noch ins Bad, bevor sie sich übergeben musste.
Hinterher setzte sie sich auf die kalten Fliesen und lehnte den Kopf an die Wand. Sie zog ihr Handy heraus und wählte ihre Mailbox an, um zu sehen, ob Daniel eine Nachricht hinterlassen hatte. Hatte er nicht. Rasch suchte sie in ihren Kontakten nach Alex’ Nummer.
» Hallo?«, meldete sich dieser.
» Wir müssen Gemma finden«, sagte Harper.
» Ich weiß.«
» Nein.« Harper schüttelte den Kopf, als könne er sie sehen. » Ich meine, es ist mir scheißegal, was sie ist oder was die Mädchen sind. Die Sucherei in Büchern hat keinen Sinn. Wir müssen sie aufspüren !«
Alex seufzte erleichtert. » Das sehe ich genauso. Wir müssen sie finden und hierher zurückbringen, egal wie.«
VIER
Rückzug
G emma erwachte, trotz der Hitze in kalten Schweiß gebadet. Die Glastür zum Balkon stand offen und ließ den Wind herein, der die Vorhänge bauschte und den süßen Geruch des Meeres mit sich brachte.
Die Fremdheit ihrer Umgebung vergrößerte ihre Panik noch. Hastig und mit klopfendem Herzen setzte sie sich auf. Sie rang nach Atem und sog die salzige Luft in tiefen Zügen ein, das half ein wenig. Ihr Kopf hämmerte noch immer und die Wassermelodie rauschte in ihren Ohren.
Das war das Schlimmste. Alles in den letzten paar Tagen war schlimm gewesen, aber die Wassermelodie machte es ihr unmöglich zu denken oder auszuruhen. Die Musik verfolgte sie in ihren Träumen, hielt sie nachts wach und brachte sie dazu, sich in ihrem eigenen Körper unwohl zu fühlen.
Am liebsten wäre sie aus ihrem Körper herausgekrochen, aber das ging nicht. Sie war darin gefangen, gefangen mit dieser immerwährenden Musik und diesen schrecklichen Mädchen in diesem farblosen Haus.
So ließ sich das Haus am besten beschreiben– farblos.
Penn hatte es ausgesucht und dabei das luxuriöseste Anwesen gewählt, das sie an der Küste finden konnte. Selbst Gemma musste zugeben, dass es schön war, sehr exklusiv und großzügig, aber so viel Weiß hatte sie noch nie in einem Haus gesehen.
Das Zimmer, in dem sie schlief– von dem Penn gesagt hatte, es sei » ihr« Zimmer–, war gänzlich weiß. Kein Eierschalen- oder Elfenbein- oder Rauweiß, sondern von einem reinen, beklemmenden Weiß. Die Wände, die Vorhänge, die Bettwäsche. Selbst die Bilder an den Wänden hatten einen weißen Rahmen und enthielten irgendwelche abstrakten Gemälde mit wirbelnden weißgrauen Schattierungen.
Der Rest des Hauses war genauso. Die einzige Farbe, die gelegentlich ins Haus vordrang, war ein blasses Grau oder ein gedämpftes Blau. Das Haus wirkte fast unerträglich makellos.
Gemma war es ein Rätsel, wie man in so einer Umgebung leben konnte, und der Hauseigentümer hatte es ihr bislang auch nicht erklären können. Allerdings redete Gemma auch kaum mit ihm. Penn und die anderen Sirenen hatten ihn mit ihrem Bann belegt und in einen hirnlosen Schmeichler verwandelt, und Gemma hatte absolut keine Lust, sich mit so jemandem zu unterhalten.
Außerdem war sie zu sehr mit sich beschäftigt. Abgesehen von der schrecklichen Wassermelodie, die sie unablässig quälte, ging es ihr auch sonst sehr schlecht. Sie schien eine Grippe erwischt zu haben, schlimm wie noch nie. Ihr ganzer Körper schmerzte von den Knochen bis zur Haut. Immer wieder schwappte Übelkeit in
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