Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
Umständen ›weggegeben‹ würde. Erst als der sogenannte Ernst des Lebens einsetzte und der sprichwörtlich andere Wind durch endlose Schulkorridore zu wehen begann, wurden im Umgang mit Cornelius allmählich auch »andere Saiten« aufgezogen.
Eine erste gehörige Tracht Prügel bezieht Cornelius, nachdem seine Großmutter in seinem Nachtkästchen einen Stapel längst verschimmelter und vertrockneter Stullen entdeckt hat, die er jeden Morgen in den Schulranzen gepackt bekommt. Nur aus dummer Verlegenheit hat er die Wurstbrote, die er nicht essen will, weil ihm von dem leichten Fäulnisgeruch, der aus dem Einwickelpapier quillt, übel wird, in dem Nachtkästchen aufbewahrt. Einfach wegwerfen will er die Pausenbrote nämlich nicht, das wäre eine verwerfliche Sünde, denn
Brot ist heilig, Brot ist Leben
, keine Todsünde zwar, aber immerhin eine arge Verfehlung.
Die Bestrafung, die seine aufgedeckte Missetat zwangsläufig zur Folge haben muss, übernehmen nicht seine Großeltern, sondern sie bleibt – warum auch immer – Tante Carlas Mann, einem Kriminalbeamten im mittleren Alter und Dienst, vorbehalten, der nach Büroschluss zum Abendessen erwartet wird. Schier unerträglich ist ihm das kalte Schweigen der Erwachsenen, die bis zum Eintreffen des Strafgerichts ihren gewohnten häuslichen Verrichtungen nachgehen, und die in seinen Gedärmen rumorende, quellende Angst, die ihm beim Warten darauf peinigend zusetzt.
hilf mir gott o lieber gütiger gott hilf ich werde alles tun nie wieder will ich bitte hilf mach doch dass alles gut ausgeht ich habe angst so große angst lass es nicht zu ich will keine schläge ich will nicht geschlagen werden lieber will ich auf der stelle tot sein mein gott kein gott sie haben mich nicht mehr lieb meine güte keine güte keiner redet mit mir ich halt’s nicht mehr aus herrgott ich hab doch nichts verbrochen ich hab doch nichts schlimmes getan in zukunft will ich immer gehorchen
…
schluss jetzt himmel arsch und zwirn oder es setzt gleich noch was hör auf der stelle auf mit dem gewinsel du hosenscheißer oder ich geb dir wirklich einen grund zum röhren wart nur gleich fällt der watschenbaum noch einmal um da kenn ich keinen spaß kruzifix noch mal halt doch endlich still du heulsuse feigheit und gefühlsduselei so was kann ich einfach nicht ausstehen herrschaftszeiten schämst du dich denn nicht so zu plärren ich kann’s beim besten willen nicht verputzen wenn einer so rumheult oder rumwinselt du enttäuscht mich schon schwer sei doch nicht so ein gotterbärmlicher waschlappen weißt du denn nicht ein indianer kennt keinen schmerz
…
in der behausung an der bahnstrecke sitzt ein verängstigtes kind aufrecht im bett und starrt mit leergeweinten augen in die dunkelheit es will fliehen weiß aber nicht wohin es laufen soll daher zählt es heute keine schäfchen oder sagt brav und treuherzig sein abendgebet auf denn sein gott ist entweder unerreichbar fern oder schon völlig taub und abgestumpft von den vielen klagen die beständig sein ohr erreichen abermals hat er das kind im stich gelassen und trotz aller unterwürfigen anreden die ihm schmeicheln sollen keinen finger gerührt mittlerweile ist der kummer des kindes unsagbar geworden es kann ihn nicht einmal mehr dem unsichtbaren begleiter offenbaren seinem persönlichen schutzengel der ihm früher keinen schritt von der seite gewichen ist der getreue paladin ist nämlich dahingeschwunden als die welt der erwachsenen immer fester und undurchlässiger geworden ist daher weint es in einem zu tränenlos mit müden und brennenden augen ich will nach hause murmelt es eintönig vor sich hin o mein gott ich will nach hause ich will endlich nach hause und das geht so lange bis es vor lauter erschöpfung endlich eingeschlafen ist
Fortan zittert Cornelius mehr vor dem unbändigen Zorn, der in den Augen des baumhoch vor ihm aufragenden Schlägers aufblitzte, noch bevor dieser zum ersten furchtbaren Schlag ausgeholt hat, fürchtet er sich mehr vor dem dünnen, grausamen Lächeln, das sich nach dem ersten Wehlaut, der ihm über die Lippen kam, im Gesicht des Peinigers abgezeichnet hat, als vor den schmerzhaften Auswirkungen der Züchtigung. Die Bisse der Hiebe und Ohrfeigen lassen sich noch ertragen, und ihre Male vergehen auch rasch, aber die Furcht vor dem nächsten Tag und dem abendlichen Strafgericht kann nicht so schnell und spurlos weichen. Dem gewalttätigen Blick, dem höhnischen Grinsen seines Peinigers will er nie wieder
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