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Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Titel: Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Günther
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ausgeliefert sein. Er verspürt bittere Scham und eine Einsamkeit, die trostlos ist. Weit, weit weg wünscht er sich. Doch über Jahre hinweg gibt es kein Entrinnen, das Gefängnis der Kindheit bleibt fest verriegelt. Ludwig, der Kriminalbeamte, hält die kleine Familie, in die er eingeheiratet hat, im eisernen Griff eines Schraubstocks. Er findet Gefallen daran, die gefügige Verwandtschaft herumzukommandieren, die sich vor dem barschen, unduldsamen Blick seiner Basedowschen Augen ins Unvermeidliche duckt.
    Ludwig hat das zur Genüge, was man gemeinhin Charakter nennt: Einmal ist er aufbrausend, ein andermal gibt er sich zwar schneidig, doch zugleich leutselig, im Grunde aber bleibt er immer unberechenbar, ein selbstherrlicher Dickkopf, der gerne anschafft und sich höchst ungern etwas sagen lässt. Veranlasst, das ist eines jener kalten Wörter, die er auffallend oft im Munde führt, Standpunkt ist ein anderes. Immerzu hat er irgendetwas veranlasst, stellt er sich auf einen felsenharten Standpunkt, woran nicht zu rütteln ist. Ausnahmslos alle gehorchen ihm, selbst die Großmutter, wenn auch manchmal murrend, und niemand wagt es, seinen nicht immer zweckdienlichen Befehlen und Anordnungen offen zuwiderzuhandeln, geschweige denn, seinen radikal weltlichen, aus sekundären Tugenden gespeisten und stets mit dem Fortschritt konform gehenden Auffassungen zu widersprechen. In Ludwigs scheinbar so geradlinigem Leben gibt es dennoch einen wunden Punkt: Da ist diese unklare, von zweifelhaften Freunden der Familie immer nur angedeutete Geschichte von einem Vorfall, der sich in ferner Vergangenheit in einer Berghütte am Spitzingsee ereignet haben soll, zwischen ihm und Bertha, der Halbschwester seiner Frau Carla – im Wonnemonat Mai,
Mairegen ist Kindersegen
, ein dreiviertel Jahr vor Berthas Niederkunft. Ist an diesem Gerücht tatsächlich etwas dran, ist in dem schlecht zu hütenden Geheimnis der wahre Grund zu suchen, warum seine Mutter überstürzt das Haus verlassen musste, weshalb der Junge über den Verbleib seines Erzeugers stets im Unklaren belassen wurde? Rühren etwa daher, aus einem im Nachhinein vertuschten Fehltritt, aus einer Vergewaltigung vielleicht, die unerklärlichen Launen von Tante Carla, deren Ehe mit Ludwig leider kinderlos geblieben ist? Kommt daher ihr plötzlich ausbrechender Hass, aber auch der gelegentliche Anflug mütterlicher Liebe, erklärt das die unterschwellig stets vorhandene Skepsis und die oft spürbare Verachtung der gestrengen, halsstarrigen Großmutter? Hatte nicht bereits seine Großmutter ihrerzeit einen Fehltritt begangen, indem sie, kaum verwitwet und noch nicht wiederverheiratet, ein uneheliches Kind in die Welt gesetzt hat? Würde so nicht in einer ununterbrochenen Ahnenreihe ein Fehltritt dem anderen folgen, in der labyrinthischen Abfolge der Generationen, von Anbeginn der Menschheit bis herauf zum Jüngsten Tag?
    Dem Jungen hat man immerzu weiszumachen versucht, sein Vater sei ein skrupelloser Spirituosenhändler gewesen, den seine leichtfertige, in Liebesund Lebensbelangen noch unerfahrene Mutter bei der Arbeit als Bedienung im »Sendlinger Weinbauer« kennengelernt habe. Nach einer Phase bohrender Fragerei beschied man ihm, dass sein vermeintlicher Erzeuger, der im Übrigen die Vaterschaft beharrlich abstreite, sogar in der Nachbarschaft wohnen würde, aber er hat sich Cornelius niemals zu erkennen gegeben. Die ihm von skrupellosen Neugierigen oft in scheinheiligem Mitgefühl gestellte kummervolle Frage nach dem Verbleib seines leiblichen Vaters oder nach dem Tun und Lassen seiner Mutter ist dem Jungen überaus lästig. Auch in späteren Jahren will er sie nicht hören, aber nicht nur deswegen, weil er sie auf Grund seines dunklen Wissensstandes nicht beantworten kann, sondern weil ihm die Wahrheit im Grunde genommen gleichgültig geworden ist. Nach allem, was ihm widerfahren ist, kann ihm an einer »Versöhnung« nicht mehr viel gelegen sein. Seiner festen Meinung nach haben Kinder nur sich selbst zu gehören, nicht irgendwelchen Eltern. Und was ihn persönlich angeht, so hat er sein vertracktes Leben zu meistern, das allein ist oft schon schwierig genug. Warum sollte er sich da noch zusätzlich mit der Suche nach einem ohnehin fragwürdigen Vater belasten? Die lineare Verbürgtheit gepflegter Stammbäume, übersichtlicher Sippschaften und geordneter Familienverhältnisse ist seines Erachtens verlogen, dem mutwilligen Spiel der Natur zuwiderlaufend. Es scheint ihm ungleich

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