Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
aus hartgummi der in einem fach des kleiderschranks verwahrt wird unter der ablage hängt schwer ein langer grüner ledermantel
Unirdisch stille Tage verstreichen im Dämmer des abgedunkelten Schlafzimmers, scheue Blicke gelten den bedeutungsvollen Falten und Mustern der sepiabraunen Vorhänge, den beängstigenden Konturen von Kleiderschrank, Kommode, Nachtkästchen, den stumm und schwach lumineszierend aus den Wänden wachsenden Wächtern einer balsamischen Agonie; irgendeine gemütvolle, den Geist verwirrende Kinderkrankheit wird gerade auskuriert: Masern, Mumps oder Scharlach. In das friedvolle Schweigen poltert der Hausarzt, schwerfällig, stiernackig, in die Jachenauer Tracht gekleidet, hechtgrauer Lodenjanker mit grünen Stößen, plumpe Haferlschuhe, kurze, speckige Lederhosen, an den Waden bestickte Loferl, vor den Augen eine dicke schwarzgerandete Hornbrille, lautstark schimpfend, den teuflischen Aberglauben verfluchend, reißt er mit fleischigen Händen die Vorhänge auf, zieht das Rouleau hoch, lässt zu, dass grelles Tageslicht die aschfahlen Zimmerecken flutet. Winzige Augenblicke im Voraus weiß Cornelius die Handgriffe, das sich abzeichnende Mienenspiel, die knappen, aus wulstigen Lippen gebellten Bemerkungen des ihn mit dem Stethoskop abhorchenden Doktors, es ist, als habe sein im Fieberwahn rasendes Bewusstsein das unendlich langsam sich abspulende Geschehen überholt.
Vor dem ungestümen Arztbesuch konnte Cornelius vom Balkon aus mühelos die fernen Ziffern an der Turmuhr der neubarocken Achazkirche ablesen, die weithin sichtbar oben am Neuhofer Berg steht, nachher wurde er kurzsichtig; nun muss man auch ihm eine dicke Brille verpassen, damit er die Ziffern der Rechenaufgaben, die Rektor Marek in der Volksschule mit weißer Kreide an die Tafel schreibt, wieder richtig deuten kann. Den alten Pädagogen hatte stutzig gemacht, dass der Junge von einem Tag auf den anderen das Rechnen verlernt zu haben und nur noch Fehler zu machen schien.
da er aus der augenklinik kommt sieht er mit schmerzhaft klarem blick wie sich in erheblicher entfernung ein feierlicher zug turner in weißen trikots fahnenträger und spielzug voran in vorbildlicher haltung und gemessenen schritts
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frisch fromm fröhlich frei
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in zweierreihen durch die ansonsten menschenleeren straßen des klinikviertels zur festwiese hin bewegt
Rektor Marek, über dem grauen Straßenanzug einen klinisch weißen Kittel tragend, legt höchsten Wert auf eine korrekte Aussprache seiner Schutzbefohlenen. Wehe, ein unbeholfenes Schulkind beantwortet seine Fragen nicht in korrekter hochdeutscher Aussprache, sondern in der verpönten Mundart. Dann holt er das kurze Bambusrohr, den Tatzenstecken, aus der Schublade hervor und zieht damit,
streck die Hände vor!
, dem unbelehrbaren Prügelknaben, der zitternd vor ihm steht, brennende Streiche über die anschwellende Handfläche. Wenigstens schlägt er nicht auf den Handrücken, nicht einmal bei den hoffnungslosen Fällen, er ist schließlich kein Sadist. Er will seine Schüler nur lebenstauglich machen.
Zu der damaligen Zeit bezeichnen die Lehrkräfte Cornelius als ein »stilles Wasser«, und in Begleitung seiner Tante muss er den unweigerlichen Gang zum Schulpsychiater antreten. Er lernt dort einen weiteren Weißkittel kennen, der ihn verschiedene Rorschachkleckse deuten lässt und beiläufig verfängliche Fragen stellt, etwa zu den etwas unklaren familiären Verhältnissen. Danach wird ihm von Amts wegen bescheinigt, nicht gerade ein stumpfer Klotz, dafür aber stets bestrebt zu sein, den
Weg des geringsten Widerstands
zu gehen.
Wahrscheinlich soll die rätselhafte Floskel besagen, dass er, um ja nicht aufzufallen, nur das Allernötigste lernen will oder bloß das, was ihm ohne übertriebene Anstrengung leichthin zufällt. Vielleicht bringt der Psychiater damit aber auch eine Missbilligung der gefährlichen Anzeichen äußerlicher Überanpassung und innerlicher Auflehnung zum Ausdruck, die er an Cornelius festzustellen glaubt. Wie dem auch sei, Cornelius’ sonderbarer Charakter ist zu einem Problem geworden, und im Kreis der Familie führt das Resümee des psychiatrischen Gutachtens zu einer verschärften Beanstandung seines Wesens:
Schau ihn dir nur mal an, den falschen Schlingel, er geht wieder den Weg des geringsten Widerstands! Aber damit wird er nicht durchkommen! Das kann er vielleicht mit anderen machen, aber nicht mit uns! So leicht legt er uns jetzt nicht mehr aufs Kreuz, wir wissen
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