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Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Titel: Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Günther
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sich die aus einer trägen Kleinstadt stammende Großmutter eine Empfänglichkeit für die Naturgewalten und das Wunderbare bewahrt, die eingefleischten Städtern längst abgeht, Leuten, die sich gerne über den Aberglauben ihrer »gescherten« Verwandtschaft lustig machen. Wie Lena sind viele Frauen in der Vorstadt ursprünglich vom Land, aus den armen Sprengeln und Kirchdörfern oder aus den muffigen Verhältnissen der kleinen Provinzstädte gekommen, um in der verlockenden Atmosphäre der großen Stadt freiere Luft zu atmen und das erhoffte bessere Auskommen sowie das zu diesem Zweck unerlässliche Quäntchen Glück zu finden.
    großäugig und verängstigt steht der junge neben seiner großmutter die mit flacher hand das offene wasserrohr über dem abguss abdeckt aus dem gerade ein harter strahl in die küche gespritzt war lena ist auf einmal das gehäuse des wasserhahns entgegengefallen und sie weiß sich nicht anders zu helfen die beiden sind allein in der wohnung und auf sich gestellt im ganzen haus hat niemand auf das wiederholte schellen des jungen und lenas verzweifelte hilferufe reagiert lena rührt sich nicht vom fleck und es dauert lange bis der großvater von der arbeit heim kommt wilhelm greift sich sofort ein großes handtuch und deckt damit das rohr ab das tuch saugt sich schnell voll und hängt schwer in den ausguss sodann sucht der großvater in aller ruhe den haupthahn und dreht den wasserstrahl ab lena wimmert leise und zittert am ganzen körper ihre hand ist blau angelaufen die finger sind vor kälte steif geworden
    Lena zollt gebildeten Menschen und der Bildung im Allgemeinen größten Respekt. »Wissen ist Macht«, so lautet ihre vom Anfang des Jahrhunderts rührende Lieblingsdevise. Wissen ist unabdingbares Rüstzeug für den angestrebten Aufstieg, für das Erklimmen immer höherer Sprossen auf der Leiter des gesellschaftlichen Erfolgs, an deren Ende den Gebildeten Wohlstand und finanzielle Unabhängigkeit erwarten. Sobald Lena eine Erklärung für ein ihr nicht geläufiges Wort oder einen unbekannten Begriff gefunden hat – meist ist dies beim Lösen von Kreuzworträtseln in den Illustrierten der Fall –, trägt sie beides sorgfältig in gestochen klarer Schrift in ein kariertes blaues Schulheft ein. Bald schon muss sie für jeden Buchstaben des Alphabets ein eigenes Heft anlegen. Mit der Zeit kommt dadurch ein eigentümliches Nachschlagewerk zustande. Da aber zunehmend die Gicht die Finger ihrer Schreibhand versteift, kann sie die akribische Arbeit am Lexikon nicht mehr weiterführen.
    Im kalten Herzen einer sternklaren Winternacht schreckt der Junge aus dem Schlaf. Er liegt auf dem Rücken, starrt aus geweiteten Pupillen auf den in ein fernes Dunkel zurückweichenden Plafond, sein Bett schwebt über einer unergründlichen schwarzen Grube, einem wandlosen Brunnenschacht. Eigentlich hat sich auch schon das Bett mitsamt seinem Körper in nichts aufgelöst. In der Leere gibt es nur noch einen einzigen Halt, denn zugleich verspürt er einen starken, einsamen Schmerz, der seine peinigenden Signale entlang der Wirbelsäule in den Kopf aussendet; es ist ihm, als sei er auf der Spitze einer Nadel zu liegen gekommen, die sich tief in seinen Rücken hineinbohrt. Die Zeit dehnt und verzerrt sich immer mehr, die wächserne Stille wird zur gewaltigen Last, die seinen unförmigen Leib schwer auf die Nadel presst. Er hat auf einmal ungeheure Angst, und es drängt ihn aufzuspringen und aufzuschreien, aber da er kaum mehr vorhanden ist, kann er sich auch nicht rühren oder irgendeinen hörbaren Laut hervorbringen. Er ist zu einem konturlosen Geist geworden, ein unfassbar schmerzlicher Vorgang hat ihn von seinem Körper getrennt und zu einem Albgespenst reduziert, mit einem kalt pochenden, hauchdünnen Schwert im Zentrum, das prekäre Achse ist und zugleich kläglicher Anker. Zäh ringt er mit dem höchst lebendigen, messerscharfen Geist, den er erst überwinden muss, um vor dem Ausgeliefertsein gegenüber dem unauslotbaren Raum und der darin lauernden schwarzen, haltlosen Bedrohung wieder in die sichere Zuflucht seines Selbst und in die Geborgenheit des eigenen begrenzten Körpers zurückzufinden, zu seinen vertrauten Händen und Füßen. In der brütenden Dunkelheit geschlüpfte Nachtmahre, tückische Kobolde oder grausame Hexen hätten ihn nicht schlimmer fordern können als diese panische Angst vor dem formlosen Grauen in desperater Finsternis. Vor lauter Erschöpfung fallen ihm endlich die Augen zu;

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