Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
der Schlaf kommt als willkommene Erlösung. Am frühen Morgen wacht der Junge auf, in klebrigen Schweiß gebadet; nach dem schweren nächtlichen Kampf fühlt er sich in seinem Federbett wie gerädert. Draußen ist es immer noch dunkel, aber über Nacht hat die stechende Kälte bizarre Eisblumen ans Schlafzimmerfenster gemalt.
In weißen Mondnächten wandelt Cornelius mit offenen Augen, aber ohne zu sehen, über den Flur. Niemals gelangt er dabei ins Freie hinaus, denn die Wohnungstür ist vorsorglich verriegelt. Im bläulichen Licht des Wohnzimmers kommt er wieder zu sich, im Kreis der durch sein Auftauchen verstörten Erwachsenen, die sich vor dem flackernden Auge des Fernsehgeräts zur allabendlichen Andacht eingefunden haben.
In die Wohnung gegenüber ist vor kurzem eine frisch verheiratete Familie mit Kind eingezogen. Im Hof spielt Cornelius gelegentlich Federball mit dem Mädchen, das jedoch nicht die Tochter des Ehegatten ist. Der sich vor den Nachbarn bemüht freundlich und familiär gebende Rundkopf ist in Wahrheit ein launenhafter Trunkenbold, dazu rasend eifersüchtig auf seine hübsche Frau, die zu ihren hochtoupierten brünetten Haaren aufreizend enge Röcke trägt und anderen Männern mit Vergnügen schöne Augen macht. Cornelius bekommt in manchen Nächten mit, wie der Mann die verführerische Gattin anbrüllt und ihr damit droht, sie für den Rest ihres Lebens zum Krüppel zu machen. Schreckenslahm liegt er im Bett, zählt das dumpfe Klatschen der Schläge und hält den Atem an. Für sein Leben gern würde er sich schützend vor die glutäugige Nachbarin stellen, die bei jedem Hieb des betrunkenen Rohlings aufschreit und zwischendurch vergebens um Hilfe ruft, heldenhaft möchte er die gegen ihr gefälliges Gesicht und den untadeligen Körper gezielten groben Schläge abfangen, ist sich aber seiner erbärmlichen Ohnmacht schmerzlich bewusst und zerrt schließlich feige und entmutigt die Decke über den Kopf. So nimmt er wenigstens nicht mehr wahr, wie sich die Raserei des Mannes erschöpft und das Aufheulen der geprügelten Frau in ein rhythmisches Keuchen und Stöhnen übergeht.
In den Hundstagen geht es zum Baden an den fast schon zum Rinnsal gewordenen Fluss oberhalb des Flaucherwehrs, wobei es sich die Erwachsenen auf dem bleichen Kies bequem machen, traulich miteinander über Gott und die Welt tratschen und bald darüber vergessen, ihren Nachwuchs zu beaufsichtigen. Indes vergnügen sich die Kinder, indem sie auf einem quer zur Strömung eingelassenen Betonbalken balancieren und von dieser Schwelle aus in eine etwas tiefere Mulde des flachen Flussbettes springen, worin sie wenigstens ein paar Schwimmzüge andeuten können.
In einer solchen Gumpe wird Cornelius an einem strahlenden Hochsommertag von einem tückischen Wirbel gepackt und unter Wasser gedrückt. Er bekommt ziemlich viel davon zu schlucken, fuchtelt, rudert und zappelt wild mit Armen und Beinen. Ohne das Geringste auszurichten, dreht er sich um die eigene Achse und sieht im Versinken voll Erstaunen, wie sich über ihm ein bleicher Himmel wölbt. Langsam treibt ihn die Strömung in Richtung des langen hölzernen Stegs, der die Kante des Wehrs auf massigen Betonpfeilern überspannt.
Für eine ganze Weile muss Cornelius das Bewusstsein verloren haben, denn als er wieder zu sich kommt, liegt er, fremde, besorgte Gesichter über sich gebeugt, im flirrenden Schatten eines Weidenbusches auf sonnenwarmem Kies, den der Fluss am Fuß eines der Pfeiler angeschwemmt hat. Ein aufmerksamer Mensch hatte einen kurzen Blick auf seinen Arm erhascht, der sich noch einmal in schlaffer Anstrengung aus dem Wasser hob, als er, von der Strömung erfasst, hilflos am Lagerplatz einer Gruppe Badender vorbeitrudelte, und ein umsichtiger Retter hat ihn rasch und im rechten Moment aus dem nassen Element zurück ins Leben geholt, in die flüchtige Geborgenheit eines hitzeflimmernden, wolkenlosen Nachmittags.
Nachdem er einen großen Schwall brackigen Gumpenwassers ausgehustet und erbrochen und sich von dem Schock ein wenig erholt hat, tragen die freundlichen Menschen den Jungen fürsorglich über den kleinen Seitenarm des Flusses zurück zum Lagerplatz seiner nachlässigen Aufpasserin, die weder das kurze Drama, das sich in nächster Nähe ereignet hat, noch das lange Fernbleiben ihres Schutzbefohlenen wahrhaben mochte. An jenem denkwürdigen Nachmittag, an dem Cornelius für einen flüchtigen Augenblick vom Schatten des Todes gestreift oder vom Kuss einer
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