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Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Titel: Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Günther
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beförderten. Schließlich verlegten sich die durch den widersetzlichen Furor der Frauen eingeschüchterten und aus dem Konzept gebrachten Soldaten darauf, die Brücke nicht mehr zu sprengen, sondern nur noch zu sperren. Nach einer Version der Geschichte wurde zu diesem Zweck die Elefantin Lelabati aus dem nahen Tiergarten zu Hilfe geholt, die mit ihrer enormen Kraft einen Straßenbahnwagen vor die Brücke schob und als sperriges Hindernis quer stellte. Nach einer anderen Version blockierte hingegen die Wehrmacht die Brücke eigenhändig mit einem Straßenbahnwagen, erst nachher sei die Elefantenkuh zum Einsatz gekommen und habe das Hindernis von der Brücke gezogen, woraufhin die lange Kolonne der amerikanischen Panzer ungehindert ins Gebirge, nach Berchtesgaden und Salzburg rollen konnte.
    Im eingesammelten Altpapier entdeckt Cornelius ein zerlesenes Landserheft. In dem kriegsverklärenden Roman werden aussichtslose Gefechte sämtlicher Ideale und Illusionen beraubter Fremdenlegionäre geschildert, die in den südlichen Breiten dieser Welt besinnungslos weiter gegen Gelbe, Rote und Braune kämpfen. Es versteht sich von selbst, dass die Ideale der Söldner, auf die in dem Heft nicht näher eingegangen wird, falsche Ideale gewesen sein müssen. Aber in blinder Einfalt gewinnt der Junge selbst dieser hingerotzten Heldengeschichte etwas ab. Sie verstärkt die Sehnsucht, aus der engstirnigen Heimat zu türmen, das Weite zu suchen, und gibt der leisen Hoffnung Auftrieb, an einem anderen, einem exotischeren Ort – selbst wenn dort ein menschenfressender Krieg wüten sollte – allemal etwas Besseres zu finden als die mit tödlicher Langeweile gekoppelte Beaufsichtigung, die seinesgleichen täglich zu Hause erwartet. Gleich nachdem er den billigen Landserkitsch verschlungen hat, stößt er bei fortgesetztem Stöbern in den aufgestapelten Fernsehzeitschriften und Illustrierten, auf deren bunten Umschlägen meist gefällige Bikinischönheiten prangen, auf eine eigenartige Zeitschrift, die zur Abwechslung keine gängige Augenweide bietet, sondern ein entsetzliches Titelbild: Sein Blick fällt auf einen Haufen nackter, dunkelhäutiger Leichen, in eigenartig erstarrten Verrenkungen übereinander geworfen, mit klaffenden Mündern; an der Stelle der Geschlechtsteile befindet sich nur glatte, geschabte Haut. Das retuschierte Bild von Hingemordeten eines in weiter Ferne tobenden Kolonialkrieges verfolgt und verstört ihn noch lange Zeit. Bald darauf kommen in den Fernsehnachrichten ähnlich schreckliche Bilder: Schwarze in weißen Hemden, offenbar dem Tod geweiht, die Hände auf dem Rücken gefesselt, werden von schwarzen Soldaten geschlagen, am Haarschopf gepackt und auf die Pritsche eines Lastwagens gezerrt, während die umstehenden Schwarzen ihren Hohn und Spott mit ihnen treiben. Weiße Söldner spielen eine schmutzige Rolle in diesem Krieg. Er merkt sich den Namen eines ziegenbärtigen Schwarzen und den rhythmischen Klang: Lumumba. Die gespenstische Bildfolge der Passion und den vokalreichen Namen prägt er sich ein, das obszöne Landserheft vergisst er zum Glück schnell wieder. Durch die unsichtbare Abschirmung, eine Art Luftverdichtung, die sich über sein Leben und das Dasein in der Vorstadt wölbt, zieht sich ein feiner Riss.
    Nach und nach lagern sich weitere klangvolle Namen in seinem Gedächtnis ab, etwa der eines barfüßigen Marathonläufers und Goldmedaillengewinners aus Äthiopien, oder der eines Sherpas aus Nepal, der im Jahr von Stalins Tod und Cornelius Geburt mit einem neuseeländischen Bergsteiger auf dem Gipfel des höchsten Berges der Erde gestanden ist: Abebe Bikila und Tenzing Norgay werden zu seinen neuen, strahlenden Sternen am Horizont.
    Er schließt Freundschaft mit einem Jungen, dessen Familie in einem behäbigen Altbau gegenüber der Freizeitheimwiese wohnt. Das Eckhaus wird bald eines der ersten im Viertel sein, die in Eigentumswohnungen umgewandelt werden sollen. Die meisten Mieter können sich den Kauf der Wohnungen, in denen sie ihr halbes Leben lang gewohnt haben, nicht leisten und ziehen infolgedessen in die neuen Wohnblöcke aus Beton, die auf dem Ackerland im Osten der Stadt hochgezogen werden.
    Solange der Freund noch in der Nähe lebt, pilgert er mit ihm fast jeden zweiten Sonntag zum Fußballstadion auf dem Giesinger Berg. Meist stehen sie in den Rängen der Westkurve, unterhalb der handbetriebenen Anzeigetafel, und studieren, während sie auf den Anpfiff warten, in der blauen, kostenlos

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