Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
verteilten Stadionzeitung die genaue Mannschaftsaufstellung. Wenn sie auf den Betonstufen keinen Platz mehr finden, weil sich dort bereits alles dicht an dicht drängt, klettern sie über die Brüstung und lagern am Rand des Spielfeldes, knapp hinter der mit Kalk gezogenen Torauslinie, vorzugsweise neben einem der hölzernen Torpfosten.
Die Brüstung in der Westkurve ist kein echtes Hindernis für die Zuschauer, und so kann es leicht geschehen, dass ein Stürmer, den es mit Wucht aus dem Spielfeld herausträgt, über die Körperbarriere der am Rand Kauernden purzelt, an der auch oft genug das runde Leder abprallt, das ins Toraus gedroschen wird. Umgekehrt kommt es gelegentlich vor, dass ein Pulk Vereinsanhänger, über tatsächliche oder vermeintliche Fehlentscheidungen des Schiedsrichters empört, das laufende Spiel unterbricht und auf den Rasen hinausstürmt. Oft genug verwandelt sich das ovale Rund des Stadions in einen regelrechten Hexenkessel, der Lärm, der dann entfesselt wird, ist ohrenbetäubend. Ganze Belegschaften von Münchner Großbetrieben füllen die Stehhalle gegenüber der Sitztribüne und feuern die Heimmannschaft aus tausend Kehlen an. Als der Schiedsrichter bei einem für die Münchner Löwen wichtigen Punktspiel offensichtliche Fouls der Gäste übersieht, ihnen obendrein noch einen Elfmeter schenkt und zu allem Überfluss mehrere Spieler, die sich lauthals darüber beschweren, vom Platz weist, kocht die aufgeheizte Stimmung über. Im Rücken der Freunde steht eine Blase Halbstarker, die sich die Lungen aus dem Hals schreien:
Pfui, pfui, Schiebung, schwarze Drecksau, damischer Pfeifenkopf, wart nur, dir reiß ich gleich ’s Rammerl ab!
Cornelius kann im Rachen eines besonders fetten Schreihalses den roten Zapfen sich krümmen sehen. Nach Spielschluss strömt eine aufgebrachte Menge zur kleinen Gasse hinter der Stadionwirtschaft, wo der Bus der Sieger zur Abfahrt bereitsteht. In der hin- und herwogenden Menschentraube, die sich um den Sieg ihrer Helden betrogen sieht, werden wutentbrannt Fäuste geballt, wilder Hass bricht sich Bahn, wochenlang angestaute Feindseligkeit verschafft sich johlend und brüllend Luft. Der um sein Leben bangende Schiedsrichter verbirgt sich wohlweislich in den Katakomben des Stadions. Die aggressive Menge bringt den Bus der auswärtigen Mannschaft ins Schaukeln, die Gesichter der jungen Spieler hinter den Scheiben sind kalkweiß. In der Dämmerung ziehen Polizeiketten auf …
Cornelius’ Verein bestreitet im Londoner Wembley-Stadion das Endspiel um den Europacup der Pokalsieger. Zur abendlichen Fernsehübertragung versammelt sich die Familie mit einigen Nachbarn zu Wein und Bier im großelterlichen Wohnzimmer. Cornelius ist unter den Anwesenden der Einzige, der mit Leib und Seele König Fußball huldigt, dennoch bleibt er, allem Bitten und Betteln zum Trotz, ausgeschlossen, noch vor der »Tagesschau« hat er im Bett zu sein. Er muss sich also in den Flur schleichen und heimlich an der Tür horchen. Aber er bleibt immer auf der Hut: Sobald er merkt, dass jemand im Begriff steht auszutreten oder Nachschub zu holen, huscht er in Windeseile zurück ins Schlafzimmer. Noch Jahre danach kann er die Namen seiner Helden herunterrasseln: Merkel, Radenkovic, Kohlars, Heiß, Küppers, Grosser, Luttrop, Brunnenmeier, Wagner, Bena, Reich, Rebele …
Umschlossen vom zähen Harz seines Gedächtnisses ist auch das Bildnis einer blutjungen Frau, die einem weißbärtigen Maler Modell liegt. Die dralle Vorstadtschöne ist bis auf einen zarten, wie aus Gold gewirkten Haarflaum splitternackt. Bäuchlings rekelt sie sich im Licht der Abendsonne auf einer knallbunten Campingliege, der alte Maler hat sich eine blaue Bauernschürze umgebunden und steht, eine Pfeife im Mundwinkel, an der Staffelei. Behände skizziert er den Umriss der betörenden Schönheit, genussvoll taxiert er die ungezähmte, feurige Lockenpracht; sein beglücktes Auge schweift über schamlos sich ihm darbietende Wölbungen und Gliedmaßen. Cornelius lehnt am Balkonrand und erfasst die sich ihm in einer tiefer liegenden Loggia des Nachbarhauses so unvermutet eröffnende Szene mit unstet flackerndem Blick. Auf einen derart intimen Anblick war der Junge nicht vorbereitet, eigentlich wollte er nur flüchtig inspizieren, wie weit der Freizeitmaler in der Bearbeitung seiner neuen Leinwand gekommen ist, eine in grellen, dick aufgetragenen Farben gespachtelte Gebirgslandschaft, die tags zuvor noch unvollendet an der Staffelei
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