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Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Titel: Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Günther
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Arbeit das Bewirtschaften eines Haushaltes mit sich bringe. So gekonnt ist ihr Zusammenbruch gespielt, dass der konsternierte Mann darüber ganz vergisst, ihr die üblichen Vorhaltungen zu machen, sie nur noch hilflos aufzurichten versucht, bevor er sich, ohne zu murren, in die Küche begibt, wo er im Handumdrehen,
gelernt ist gelernt
, Teller aufdeckt, Teewasser aufsetzt, Brot, Wurst und Käse zum Abendbrot auftischt.
    Weder Carlas Ordnungswahn noch Ludwigs Redensarten können Cornelius bei der Bewältigung der schulischen Ansprüche eine Hilfe sein. Gemeinsam mit den schon vorher damit überforderten Großeltern sind sie längst am Ende der eigenen Schulweisheit angelangt. Sobald Cornelius bei befreundeten Mitschülern eingeladen ist, die im Brei der weitläufigen, das Obersendlinger Industriegebiet säumenden Siedlungen in modernen Wohnanlagen und schmucken Einfamilienhäusern aufwachsen, taucht er in eine völlig andere, ihn schier exotisch anmutende Welt ein.
    Da ist etwa die australische Mutter von Gerrit, die ihrem Sohn nicht nur bei schwierigen Matheaufgaben helfen kann, sondern auch dazu imstande ist, verständig mit ihm und seinem Gast über das zweite Album von Led Zeppelin zu fachsimpeln. In Gerrits Zimmer bekommt ein davon ungemein beeindruckter Cornelius die größte Plattensammlung außerhalb eines Fachgeschäfts zu Gesicht. Lange und eingehend betrachtet er auf den Plattenhüllen die irren Farben der ausgefallenen Bilder. Ihm scheint fast, als habe er bislang in einer farblosen, eintönigen Welt gelebt. Gerrit ist fasziniert von Martin Luther King, am Parka trägt er einen Button mit dem Porträt von John F. Kennedy. Gerrits lange Haare sind unangefochten, seine Mutter findet sie hübsch, ihren Sohn untergehakt, wird sie die Premiere des Hippie-Musicals »Hair« besuchen.
    Beschämt und neidvoll trottet Cornelius den weiten Weg zurück in den Mief der Vorstadt. An so viel atemberaubende Liberalität und Weltoffenheit ist er noch nicht gewöhnt. Tatsächlich wäre er beinahe daran erstickt.

III
    Ein reisefreudiger Despot aus einem fernen Folterland, der vom Auswurf der Golddruckwalzen einer verkommenen Presse als Märchenkaiser verklärt wird, besucht mit seiner von zahllosen deutschen Hausfrauen untertänigst verehrten Kaiserin die Stadt an der Isar. Der bewährte Beamte Ludwig gehört zum Begleitschutz – bei einer Führung der kaiserlichen Hoheiten durch einen in Obersendling angesiedelten Elektronikbetrieb ist er eingesetzt, ebenso beim abendlichen Opernbesuch. Jubelperser prügeln unter den Augen der Ordnungskräfte auf empörte Gegendemonstranten ein. Mit Standkonzerten und Hubschrauberlärm übertönt die Polizei Protestsprechchöre. Vor der Pinakothek zerrt sie zwei Demonstranten von der Straße, die Transparente hoch halten, worauf in persischer Sprache geschrieben steht:
Der Schah ist ein Mörder
. Die Demonstranten werden grob angefasst, die Transparente beschlagnahmt. Nachher stellt sich heraus, dass die vermeintlichen Protestierer ebenfalls Polizisten waren, die als Zivile ihren Dienst versahen und von den uniformierten Kollegen nicht erkannt worden sind. Vor der Presse schwadroniert der Polizeipräsident, die Demonstranten, im Dienstjargon »Störer« genannt, seien
berufsmäßige Wirbelmacher, denen jeder Anlass zur Demonstration recht ist – heute gegen den Schah, morgen für Miniröcke, übermorgen für einen billigen Trambahntarif
. In der nächsten Stadt, die auf der kaiserlichen Reiseroute liegt, bleibt ein Jugendlicher in einer Blutlache liegen, ein ordnungsliebender Wachtmeister hat einen aus der zersprengten Schar der in Hinterhöfe abgedrängten Schahgegner totgeschossen. In Hetzartikeln der von einem selbstherrlichen Zeitungszaren beherrschten Boulevardpresse werden die »Jungroten« als »Horde langhaariger Affen« gebrandmarkt.
    Vom Einsatz hat Ludwig ein Flugblatt der Schahgegner mit nach Hause gebracht. Der Text, kurz und bündig, liest sich wie eine Offenbarung. Cornelius studiert ihn mit der wachen, gespannten Aufmerksamkeit, die sonst nur Meisterwerken der Literatur vorbehalten sein darf. Die Begriffe Reform, Staatsstreich, Geheimdienst, Verstaatlichung, Öl, Heroin, Kapitalexport, Entwicklungshilfe, Terror, Folter, Status Quo und Empörung bilden die schlüssigen Glieder einer zwischen den Pfählen Reform und Revolution gespannten Kette. Für Cornelius sind das keine kalten Abstraktionen. Der Schah herrscht als starker Mann in Persien, der Polizist Ludwig als Regent

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