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Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Titel: Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Günther
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beiseite. Im Schlaf quellen dann feuchte Träume empor, unwillkürlich ergießt er sich. Er kann nichts für die bittere Lust, die ihn quält, dennoch schämt er sich des ungeheuren Triebs und fürchtet, zur Strafe für seine haltlosen Ausschweifungen irreparablen Schaden zu nehmen an Körper und Geist.
    Gelegentlich wird Carla sentimental und wehleidig, aber ihr Mitgefühl gilt dann nicht den Mitmenschen, sondern allein ihr selbst. Regelmäßig schluckt sie Beruhigungstabletten,
mother’s little helper
, Weichmacher der Realität, um mit den offenbar anderweitig nicht mehr zu bewältigenden Anforderungen des modernen Lebens fertig zu werden. Insgeheim gibt sie dafür ihrem liederlichen Neffen Schuld, von dem sie argwöhnt, dass er mehr und mehr seiner um vieles verwerflicheren Mutter Bertha nachschlägt. Nachdem Carla vom Unfalltod eines Schulkameraden von Cornelius erfahren hat, der mit dem Einverständnis seiner Mutter das Elternhaus verlassen hatte, um mit unwesentlich älteren Musikern zusammenzuleben, lautet der einzige Kommentar dazu, der ihr, dabei scheinbar ungerührt mit Tellern, Töpfen und Pfannen hantierend, beim Abwasch über die Lippen kommt:
Da sind garantiert Drogen im Spiel gewesen. Sein Tod wird für die Mutter eine Erlösung gewesen sein. Ich kann mitfühlen, was die arme Frau alles durchgemacht haben muss. Glaub mir, für sie ist es sicher das Beste, dass er früh gestorben ist
. Die harten, ichbezogenen Worte treffen den vom unfassbaren Tod des Freundes im Wesensgrund erschütterten Jungen wie scharfe Peitschenhiebe.
    Fest im Gedächtnis haften bleibt Cornelius die originelle Umschreibung einer Verhütungsmethode, über die ihn Carla aufklärt: Wer es beim Geschlechtsverkehr nicht zum Zeugen eines Kindes kommen lassen will, darf nicht direkt bis zum Hauptbahnhof durchfahren, sondern hat gefälligst eine Station vorher auszusteigen. Scheherezade hätte für ihren Kalifen damals gewiss ein weniger biederes Bild gewählt und bestrickendere Worte gefunden, doch auch ein anschauliches Eisenbahngleichnis hat seinen Reiz. Vor allem wenn man noch keine Fahrkarte gelöst hat und der Schaffner bereits im nächsten Abteil kontrolliert. Cornelius wird sich sein Leben lang an dieses zeitgemäße Gleichnis erinnern müssen, das leider nie Aufnahme in die glänzenden schulischen Aufklärungsbroschüren gefunden hat, mit denen er in seiner Schulzeit traktiert wurde. Er muss später oft daran denken, wenn er gerade in einem Zug sitzt, der an einem bestimmten Münchner Vorortbahnhof hält. Cornelius steigt aber nie aus, denn dort hat er nichts verloren.
    Nach Carlas Auffassung soll Cornelius sich erst die Hörner abstoßen. Wenn sie, was freilich undenkbar ist, seine Geliebte wäre, würde sie schon wissen, was zu tun ist. Sie würde es verstehen, sagt sie, sich ihn für immer hörig zu machen, sie würde ihn in eine abgelegene Waldhütte locken und ihn darin nach allen Regeln der Liebeskunst verführen.
    Wahrhaft berührt, womöglich im innersten Herzen aufgewühlt, ist Carla nur, sobald sie übersteigerte Possen auf der Leinwand verfolgt, oder am Fernsehschirm. Cornelius beobachtet sie manchmal von der Seite her, wenn sie wie gebannt vor dem Apparat sitzt und mit ergriffener Miene das unechte Geschehen in den Spielfilmen verfolgt. Erstaunlich ist es, wie leicht ihre schönen braunen Augen beim unvermeidlichen
happy end
einen feuchten Glanz annehmen. Begegnen ihr allerdings Menschen aus Fleisch und Blut, versprühen ihre Augen oft genug ungesunden Hass, und die Oberhand gewinnt ein schlecht verhohlenes Misstrauen. Cornelius wundert sich, weshalb sie – nicht nur ihm gegenüber – die meiste Zeit so kalt und herzlos ist. Welch bitterer Gram frisst eigentlich immerzu an ihr, welch furchtbares Ereignis, welch erlittenes Unrecht, welch schlimmer Verrat an geheimen Hoffnungen kann so viel lauernden Argwohn hervorgerufen haben?
    Für gewöhnlich lebt Carla nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart. Im radikalen Einerlei einer Vielzahl kleiner Dinge und Nöte: das gestärkte Tischtuch, das Sonntagsservice, die Blumen in der Vase, das tadellose Ansehen der Familie, die ebenso tadellosen Bügelfalten in den Hosen ihres Mannes. Was immer ihr auch früher zugestoßen sein mag, der ansonsten allzeit Gesprächigen ist es auffallend wenig der Rede wert. Was ihr hin und wieder dennoch zu entlocken ist, lässt sich in knappe Worte fassen: Als sie noch ein kleines Mädchen war, ist ihr Vater in der Betriebstoilette

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