Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
unbarmherzige Aberwitz des politischen Denkens bereits angefangen, seinen Verstand zu benebeln, er überlagert die moralische Entrüstung über den schmutzigen Napalmkrieg und frisst sie auf; Cornelius verhärtet sich. Er feit sich gegen antikommunistische Einwände und wappnet sich gegen pazifistische Skrupel, idiotisch verteidigt er den Volkskrieg, die Volksarmee und die Volksgefängnisse, den Onkel Ho, den Großen Steuermann Mao und die Kulturrevolution, mit einigen verblendeten Genossen wird er in einer Winternacht sogar auf den Geburtstag von Väterchen Stalin anstoßen, worüber er sich aber schon bald darauf zu Tode schämt. Sich selbst und anderen redet er ein, dass der Osten rot sei und der Westen reif für die gewaltsame Revolution, und so nehmen nicht nur die Tage seiner Kindheit ein Ende, sondern es verweht mit ihnen auch rasend schnell die Blumenkinderzeit. Bevor es aber dazu kommt, geschehen noch seltsame Dinge.
In der milden Morgenluft schlummern noch die Freuden eines unbeschwerten Sommertags, da ist Cornelius bereits lustlos unterwegs, um mit der mittlerweile fast durchwegs aufsässig gewordenen Schulklasse das künftige Olympiagelände zu besichtigen. Unter der Führung des von ihren unentwegten Provokationen genervten Wirtschaftskundelehrers Kaspar betreten sie gegen Mittag missgelaunt und in extrem lascher Haltung die luftige Aussichtsplattform des fast zweihundert Meter in die Höhe ragenden Fernsehturms. Im Süden riegelt eine gläsern schimmernde Barriere den vom Salzkammergut bis zu den Allgäuer Bergen reichenden Horizont ab, vor der ausgedehnten Gebirgskette lockt die Nähe großer und kleiner Voralpenseen zum fröhlichen Badeausflug.
Nicht im Geringsten interessiert in diesem Augenblick die Draufsicht auf die schnöden Werkshallen im Gelände der Bayerischen Motorenwerke, die der beflissene Kaspar seiner unwilligen Gefolgschaft schmackhaft machen will. Im Augenblick ist viel interessanter, dass auf dem asphaltierten Vorplatz des Turms ein Polizeihubschrauber zur Landung ansetzt; winzige Spielzeugfiguren ducken sich unter wirbelnden Rotoren und laufen mit verwehter Frisur auf die Eingangshalle zu. Bald darauf schält sich hoher Besuch aus dem Aufzug: feiste Politiker auf Stippvisite, die sich vor dem Mittagstisch noch einen prächtigen Rundblick auf das von ihresgleichen verwaltete Land gönnen wollen. Als die blasierten Würdenträger die auf der Plattform herumlungernde Schar der Ausflügler bemerken, wollen sie die sich ihnen so unverhofft bietende Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Die aufgeweckten Schulbuben um sich geschart, den vielversprechenden Nachwuchs um die volksnahen Schirmherren des Landes, hoch über dem ausufernden Konglomerat der Stadt, überwölbt von einer strahlend blauen Himmelsglocke – wäre das nicht ein hervorragendes Motiv für den laufenden Wahlkampf? Ein gefundenes Fressen für den im Tross mitgeführten Pressefotografen, ein Geschenk der Götter!
Hocherfreut ist auch anfangs der Wirtschaftskundelehrer, als er im Pulk der Politiker den jovial lächelnden christsozialen Ministerpräsidenten des Freistaates in Begleitung des amtierenden Kanzlers gewahrt, eines Christdemokraten, der sich unlängst im Bundestag wegen seiner anstandslos bewältigten braunen Vergangenheit von einer unerschrockenen jungen Frau eine saftige Ohrfeige eingehandelt hat. Mit ausgestreckter Hand strebt der bis über beide Ohren strahlende Lehrer Kaspar auf das Duo zu, das ihm huldvoll entgegenlächelt; doch das Lächeln friert schlagartig ein, als ein paar freche Schüler, die gleichfalls spitzgekriegt haben, welch christliche Prominenz sich da eingestellt hat, entsprechend reagieren. Einige recken den Arm zum Hitlergruß, andere johlen und wiederum andere brüllen lauthals:
Heil Kiesinger, du Nazi, die Watschen hat schon gepasst! Wir sind von der APO! Abtreten, abtreten!
Kaspar dreht sich betroffen um und hebt, um den Tumult einzudämmen, beschwichtigend die Hände. Aber umsonst: Die Nazirufe ebben nicht ab, weit und breit ist kein Leibwächter oder Polizist in Sicht, der dem Radau Einhalt gebieten könnte, die Granden ergreifen daher das Hasenpanier, in Windeseile sind sie samt Begleitung wieder im Aufzug verschwunden. Der Lehrer Kaspar, in seinen Grundfesten erschüttert, verzieht das ohnehin gefurchte Gesicht in noch tiefere Falten, für die restliche Dauer des Ausflugs verfällt er in brütendes Schweigen, während der überschwängliche Triumph der halbwüchsigen, mit
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