Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
einer deutschen Kleinfamilie. Die Kerker des Schahs … die Mohnfelder des Schahs … die Polizeiknüppel und die Handlungsgehilfen des Schahs … der Pfauenthron …
und übrigens die Frau des Schahs hat eine Schlankheitskur absolviert
… hinter den Fassaden von Fortschritt und Ordnung stecken hier wie dort Unrecht, Banalität und Korruption. Aber die Zeiten ändern sich gerade, man braucht nicht mehr alles hinzunehmen, die Untertanen begehren auf, die polierten Fassaden gehen zu Bruch. Am nächsten Morgen heftet er das Flugblatt ans schwarze Brett, das, Schulmitteilungen vorbehalten, gleich neben dem Eingang zum Klassenzimmer hängt. Am selben Nachmittag noch kauft er auf dem Nachhauseweg das Buch des Iraners Nirumand über die
Diktatur der Freien Welt
. Cornelius will nicht mehr in den Fesseln von Anstand und Sitte sein, einsam und unterjocht, verschroben und verlacht, er will Anschluss finden an eine radikale Bewegung, in der er sich unbeschwert fühlen und offen sein kann gegenüber dem Unerhörten, das in der Welt vor sich geht. Freilich sympathisiert er mit den Wirbelmachern, die von dem Großteil der Erwachsenen, von der Presse und der Polizei angefeindet werden. Auch bei ihm hat sich viel Zündstoff angesammelt. Als ein Lehrer der Klasse die Frage nach dem Anbringer des Anschlags stellt, meldet er sich mit Bekennerstolz als frischgebackener Radikaldemokrat.
Das nächste Schuljahr gestaltet sich für Cornelius zu einem Wunderjahr. Hat eine Umkehrung stattgefunden, ein modernes Pfingstwunder, ist gar die hohe Zeit für Sonderlinge ausgebrochen? Es kommt ihm so vor, als sei über Nacht die Abweichung zu einem allgemeinen Maßstab geworden. Ganz ohne sein Dazutun verkehrt sich die ihm bislang beschiedene Pariaexistenz, das überwiegend als Fluch empfundene Anderssein, in einen mit ungläubigem Erstaunen verbuchten Zuwachs an Macht und Überlegenheit. Doch ganz traut er dem Umschwung noch nicht, selbst als sich der einstmalige Rabauke, der ihn so hartnäckig um die wertvolle Briefmarkensammlung seines Onkels angegangen ist, wie ausgewechselt zeigt, mit einem Mal freundschaftlich aufgelegt ist und umgänglich scheint. Da auch er sitzen geblieben ist, drücken beide wieder gemeinsam die Schulbank. Die Leidenschaft für Briefmarken ist längst verflogen, passé auch der Bürstenschnitt, der Sechzehnjährige hat sich die Haare lang wachsen lassen, über den Lippen steht ihm ein zarter Flaum und auf seinem Federmäppchen prangen gerundete Schriftzüge von Led Zeppelin und ähnlich gearteter Bands, deren psychedelischer Bluesfolkrock gerade en vogue ist, nach eigenem Bekunden kifft der Junge auf nächtlichen Feten und besäuft sich, am nächsten Morgen schluckt er dann Kaptagon oder AN1, um sich während des Unterrichts wach und aufnahmefähig zu halten, doch während öder Latein- und Mathestunden zieht er es vor, mit Cornelius über Kommunen, Sex und freie Liebe zu schwätzen, obwohl vermutlich beide in ihrem gesamten bartlosen Leben noch kein Stelldichein mit einem begehrten Geschöpf des anderen Geschlechts gehabt haben. Das bleibt ein entbehrlicher und deshalb als doppelt grausam empfundener Missklang in dieser pastellfarbenen Zeit, in der das nervtötende Gebot des
du sollst dies, und du darfst das
langsam abgelöst wird durch freundlichere Ermahnungen von der Art des
don’t bogart that joint, my friend, pass it over to me
.
Allgegenwärtig und grauenvoll sind die Bilder des Krieges in Südostasien, den ungeschlachte Hünen gegen eine vergleichsweise zierlich anmutende Bevölkerung von Pyjama tragenden Reisbauern entfesselt haben. Cornelius reißt die Belege für den schwindelerregenden Abstieg der Herrenmenschen in die Barbarei aus Zeitungen und Illustrierten, um sie gegebenenfalls für eine weniger verdammenswerte Zukunft aufzuheben, zerknüllt die Fetzen aber bald wieder und wirft sie angewidert weg.
Bald wird er frühmorgens am Schuleingang stehen, vor den Gestellen mit den aufgebockten Fahrrädern, und hineinströmenden Schülern besternte Flugblätter vor die Nasen halten.
Schafft ein, zwei, drei, viele Vietnam
wird in großen Lettern darauf stehen, und die Losung wird ihn genauso befremden und schockieren wie die langhaarigen Schüler mit dem aufgemalten Peace-Zeichen auf ihren grünen Militärparkas, die ihm beinahe widerwillig das Blatt abnehmen.
Wir wollen doch, dass das Morden ein Ende hat, und jetzt kommt ihr Knallköpfe daher und fordert, dass es damit weltweit weitergehen soll!
Da hat aber der
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