Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
erstickt. Nach dem Unglück wurde ihre Mutter streng und unerbittlich. In der Hitlerzeit hat sie ihrer Tochter kategorisch verboten, dem Bund Deutscher Mädchen beizutreten, obwohl Carla sich das sehnlichst gewünscht hat. Carla und ihre jüngere Schwester mussten immer abseits stehen und sich obendrein einer sturen Mutter schämen, die andauernd Scherereien mit dem Blockwart hatte, da sie partout nicht am gemeinschaftlichen Radiohören der Hitlerreden teilnehmen oder bei völkischen Feierlichkeiten die obligatorische Hakenkreuzfahne aus dem Fenster hängen wollte. Wegen Letzterem pflegte Lena sich mit der ewigen Ausrede zu entschuldigen, die Fahne sei schmutzig gewesen und befinde sich daher in der Wäsche.
Carla ist sehr früh in eine Lehre gegeben worden, die ihr nicht im Geringsten gefallen hat, und sie weinte deshalb jede Nacht bittere Tränen, die gestrenge Lena ließ sich aber dadurch nicht erweichen. Den Weg zur Arbeit hat sie jeden Morgen unvermindert gleich empfunden – als einen ausweglosen Gang in die Folterkammer. Im vorletzten Kriegsjahr ist die Familie ausgebombt worden und infolgedessen zu hartherzigen Bauern aufs Land gekommen. Carla musste Tag für Tag versuchen, ihre Arbeitsstelle in der Vorstadt zu erreichen. Wegen der häufigen Luftangriffe sind oft keine Züge mehr zurück aufs Land gefahren. Auf dem Rückweg hat sie daher lange Märsche über Wiesen und Felder und durch dichte Waldungen hindurch in Kauf nehmen müssen. Beim Passieren einer weiten Lichtung ist aus einem tief fliegenden Jagdbomber heraus mit der Bordkanone auf sie gefeuert worden. Im Zickzacklauf konnte sie sich gerade noch in den Schutz des Waldes retten. Die Ostarbeiterinnen in der nahe ihrer Arbeitsstelle aufgestellten Baracke hat sie oft beneidet, ihrer Meinung nach seien sie besser verpflegt worden als die deutschen Arbeitskräfte. Über die Gewalt, die ihr oder ihrer jüngeren Schwester möglicherweise von Besatzungssoldaten angetan wurde, schweigt sie sich aus. Nach dem Krieg ist ihr im Krankenhaus die Gebärmutter entfernt worden.
In der Achtung der Nachbarn und Bekannten nicht abzufallen, in fremden Augen eine gute Figur zu machen, familiäre Unstimmigkeiten und unerfreuliche Angelegenheiten vor etwaigen Schnüfflern zu verbergen, das ist ihr ungemein wichtig, wichtiger als alles andere. Mit am wichtigsten sind Reinlichkeit, saubere Hände und ordentlich getrimmte Fingernägel. Schmutzige Finger und abgekaute Fingernägel sind ihr, die noch in den verborgensten Winkeln Unrat wittert, ein ganz besonderer Gräuel. Von ihrer jüngeren Schwester spricht Carla nie. Sie lebt in der beständigen Befürchtung, dass ihr Neffe der Familie und damit auch ihr einmal Schande machen könnte. Diese Schande kann und will sie aber nicht ertragen.
In der hausfraulichen Geschäftigkeit eines endlosen Nachmittags, an dem Carla noch hurtig, bevor sie sich am Herd zu schaffen macht, das Auswechseln eines schweren Veloursvorhangs und der Spitzengardinen besorgen will, hat sie sich beim Abnehmen der Wäsche im Hinterhof mit der Nachbarin verplaudert. Will sie ihrem Gatten, der eine knappe halbe Stunde nach Dienstschluss eintrifft, das Essen noch pünktlich servieren, muss sie sich also sputen. Sie weiß zur Genüge, welch hohen Wert der unfehlbare Ludwig der Pünktlichkeit beimisst, und kennt die unwirsche Reaktion, die er an den Tag legt, sobald er nur eine winzige Kleinigkeit warten muss. Cornelius soll deshalb gefälligst seine Hausaufgaben unterbrechen und ihr beim Aufhängen der feuchten Gardinen helfen. Doch kaum dass sie angefangen haben, dreht sich auch schon der Schlüssel im Schloss. Das gefürchtete Geräusch bewirkt, dass mit Carla eine erstaunliche Verwandlung vorgeht: Behände springt sie von der Leiter, bringt schnell noch ihre Haare in Unordnung, und im nächsten Augenblick lehnt sie schon in ermatteter Pose an der Wand. Als Ludwig eintritt, sinkt sie, ein bedauernswertes und vorwurfsvolles Bild des Elends, kraftlos in die Hocke, aus müden Augen blickt sie zu ihrem noch halb im Türrahmen stehenden Gatten auf und holt in gespielter Erschöpfung tief Luft. Ohne seinen besorgten Gruß zu erwidern, legt sie ihm aus dem Stegreif eine bühnenreife Szene aufs Parkett; mit anfangs noch leiser, bald schrill crescendierender Stimme wirft sie ihm vor, dass er roh und gefühllos sei, dass es ihm an der nötigen Vorstellungskraft gebreche, weshalb er es sich auch kaum ausmalen könne, wie viel stumpfe, zeitraubende und kräftezehrende
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