WattenMord (German Edition)
sie sich nicht gefürchtet, und entgegen ihrer schlimmsten Vorstellung war Holger Heiners’ Leichnam nicht aufgequollen. Seine Haut wirkte wächsern. Winzige Bisswunden übersäten sein Gesicht.
„Was ist das?“, fragte sie an Ralf Finner gewandt.
„Das, wonach es aussieht“, erwiderte er. „Bisswunden, die ihm von den Tieren im Becken zugefügt worden sind.“
„Soll das heißen, dass …“, Wiebke stutzte.
„Es sind Tiere, und sie wollen sich ernähren, so einfach ist das.“
„Die Fische aus der Nordsee würden also einen Menschen fressen?“
„Es sind Aasfresser. Und wäre der Mann erst in zwei Wochen entdeckt worden …“ Finner machte eine Pause, „viel wäre wohl nicht mehr von ihm übrig.“
„Wie schätzen Sie die Situation ein? War das ein Unglück oder hat da jemand nachgeholfen?“
„Schwer zu sagen. Heiners muss irgendwie hier reingekommen sein. Was dann geschah, müssen Sie herausfinden, Frau Kommissarin.“ Der Meeresbiologe zuckte die Schultern.
Wiebke betrachtete den Toten. Mit dem Mann, den sie von zahlreichen Fotos in der Zeitung kannte, hatte er nicht viel gemeinsam, und trotzdem war Heiners zu erkennen. Sie schätzte ihn auf Ende vierzig, Anfang fünfzig. Zu einer Jeans trug er ein Poloshirt mit dem bekannten Alligator auf Höhe der Brusttasche; ganz sicher handelte es sich bei dem blassgelben Shirt nicht um ein Plagiat. Einen Schuh hatte er verloren. Die Haare trug Heiners kurz, an der rechten Hand erkannte sie einen dicken Ehering. Also gab es eine trauernde Witwe, die wahrscheinlich noch nichts davon ahnte, dass ihr Mann tot war.
Wiebke erhob sich und bedeutete den Männern vom Bestattungsinstitut, den Leichensack zu verschließen. Sie hatten Anweisung, den Leichnam zur Rechtsmedizin nach Kiel zu transportieren. Hier würde die Obduktion stattfinden, und Wiebke befürchtete, dass sie und Petersen anwesend sein mussten. So war es Vorschrift, doch sie würde sich nicht darum reißen. Sie blickte Mahndorf an. „Wie sollen wir vorgehen?“
„Ich möchte mich nicht in Ihre Arbeit einmischen.“
„Also brauchen wir das ganz große Besteck hier“, murmelte Petersen und zog das Handy hervor. Er wählte die Nummer des Ersten Kriminalhauptkommissars Matthias Dierks und forderte Verstärkung durch Kollegen aus anderen Kommissariaten und dem Streifendienst an. Danach wandte er sich an Finner, der den Bestattern die Tür aufgehalten hatte.
„Wir benötigen eine Liste aller, die zum Multimar Zugang haben. Mitarbeiter, Lieferanten, Kunden, weiß der Geier. Und sagen Sie Ihrem Chef, dass der Laden bis auf Weiteres geschlossen bleibt.“
„Sie ist weg!“ Ein zierliches Mädchen mit kurzen, dunklen Haaren kam ihnen völlig aufgelöst im Treppenhaus entgegen. Ihr Gesicht war vor Aufregung gerötet. An der dunkelblauen Weste mit dem Multimar-Logo auf der Brust erkannte Wiebke, dass sie zum Personal gehörte. Unsicher irrte ihr Blick zwischen Finner, der offenbar ihr Vorgesetzter war, und den Polizisten hin und her. „Ich war nur kurz eine rauchen, und als ich zurückkam …“
„Maike – wovon sprichst du?“ Ralf Finner blieb stehen und starrte sie entsetzt an. „Was heißt das: ,Sie ist weg‘?“
Maike wirkte hilflos. „Wenn ich das wüsste! Ich habe ihr gesagt: ,Warte hier, die Polizei kommt gleich und wird dich befragen, du musst hier bleiben‘, aber sie hat sich einfach nicht aufhalten lassen und ist abgehauen. So kenn ich die Beke gar nicht!“
„Warum sollte sie flüchten?“ Ralf Finner war es sichtlich peinlich, dass sich Beke Frahm der Befragung durch die Polizei entzogen hatte. „Sie hat doch gar nichts zu verbergen.“
„Wahrscheinlich steht sie unter Schock.“ Wiebke lächelte ihn freundlich an. „So etwas passiert schon mal. In solchen Situationen neigen manche Leute zu irrationalen Fluchten – meist dorthin, wo sie sich geborgen fühlen. Nach Hause, beispielsweise.“
„Ich werde Ihnen ihre Adresse heraussuchen, Frau Ulbricht.“ Finner führte die Beamten in den verwaisten Pausenraum, wo er ihnen einen Kaffee anbot. Petersen entschuldigte sich mit Kreislaufproblemen und lehnte dankend ab. Wiebke betrachtete ihn nachdenklich, kommentierte die Bemerkung ihres Partners aber nicht. Später würde sie mit ihm reden. Danach verschwand Finner von der Bildfläche. Das junge Mädchen, das offenbar die Aufgabe gehabt hatte, sich um die unter Schock stehende Beke zu kümmern, war ebenfalls fort. Wiebke hoffte, dass ihr nun keine personellen Konsequenzen
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