Waugh, Evelyn
der Savanne sind meine Kinder. Deshalb gehorchen sie – deshalb, und weil ich ein Gewehr habe. Mein Vater [133] ist sehr alt geworden. Seit seinem Tod sind nicht einmal zwanzig Jahre vergangen. Er war ein gebildeter Mann. Können Sie lesen?«
»Ja, selbstverständlich.«
»Nicht jeder hat so viel Glück. Ich kann es nicht.«
Henty lachte entschuldigend. »Aber hier werden Sie auch nicht viel Gelegenheit dazu haben.«
»O doch, das ist es ja gerade. Ich habe sehr viele Bücher. Ich werde sie Ihnen zeigen, wenn Sie wieder gesund sind. Bis vor fünf Jahren gab es hier einen Engländer, also eigentlich einen Schwarzen, aber er hatte in Georgetown eine gute Ausbildung bekommen. Er starb. Bis zu seinem Tod hat er mir jeden Tag vorgelesen. Wenn es Ihnen wieder gutgeht, werden auch Sie mir vorlesen.«
»Mit Vergnügen.«
»Ja, Sie werden mir vorlesen«, wiederholte Mr. McMaster und nickte über der Kalebasse.
In den ersten Tagen seiner Rekonvaleszenz sprach Henty nur wenig mit seinem Gastgeber. Er lag in seiner Hängematte, starrte auf das Palmblätterdach und dachte an seine Frau, spulte immer wieder Begebenheiten aus ihrem gemeinsamen Leben ab, auch ihre Affären mit dem Tennisprofi und dem Soldaten. Die Tage, jeder genau zwölf Stunden lang, vergingen einer wie [134] der andere. Mr. McMaster zog sich bei Sonnenuntergang zum Schlafen zurück und ließ zum Schutz vor Vampirfledermäusen eine kleine Lampe brennen, einen handgedrehten Docht in einem Topf Rindertalg.
Das erste Mal verließ Henty das Haus, als Mr. McMaster ihn zu einem kurzen Rundgang über die Farm mitnahm.
»Ich werde Ihnen das Grab des Schwarzen zeigen«, sagte er und führte ihn zu einem Hügel zwischen den Mangobäumen. »Er war sehr freundlich. Bis zu seinem Tod hat er mir jeden Nachmittag zwei Stunden vorgelesen. Ich denke, ich werde ein Kreuz aufstellen, zum Gedächtnis an seinen Tod und an Ihre Ankunft, eine hübsche Idee. Glauben Sie an Gott?«
»Ich hab eigentlich nie groß darüber nachgedacht.«
»Ganz recht. Ich habe sehr viel darüber nachgedacht, und ich weiß noch immer nicht… Dickens wusste es.«
»Wahrscheinlich.«
»O ja, es geht aus all seinen Werken hervor. Sie werden ja sehen.«
An diesem Nachmittag begann Mr. McMaster, ein Grabmal für den Schwarzen anzufertigen. Mit einer großen Ziehklinge bearbeitete er ein [135] Holz, so hart, dass es wie Metall knirschte und klang.
Schließlich, als Henty fünf oder sechs Nächte hintereinander ohne Fieber gewesen war, sagte Mr. McMaster: »Ich glaube, jetzt geht es Ihnen schon so gut, dass Sie die Bücher sehen können.«
An dem einen Ende der Hütte war eine Art Dachboden, eine einfache Bühne oben in den Dachbalken. Mr. McMaster lehnte eine Leiter daran und stieg hinauf. Henty folgte, nach seiner Krankheit noch etwas wackelig. Mr. McMaster setzte sich, Henty stand noch auf der obersten Sprosse und sah sich um. Sein Blick fiel auf einen Haufen kleiner Bündel, zusammengebunden mit Lumpen, Palmblättern und ungegerbten Häuten.
»Es war sehr schwer, Würmer und Ameisen fernzuhalten. Zwei Bücher sind fast vollständig vernichtet. Aber die Indianer stellen ein Öl her, das ganz brauchbar ist.«
Er wickelte das nächstliegende Paket aus und reichte ein in Kalbsleder gebundenes Buch herunter. Es war eine frühe amerikanische Ausgabe von Bleakhaus.
»Es ist egal, womit wir anfangen.«
»Sie mögen Dickens?«
»Gewiss doch. Mögen ist gar kein Ausdruck. Sehen Sie, es sind die einzigen Bücher, die ich je [136] gehört habe. Mein Vater hat sie immer gelesen und später der Schwarze… und jetzt Sie. Ich habe sie alle schon mehrmals gehört, aber nie werde ich müde. Immer gibt es etwas Neues zu lernen und zu bemerken, so viele Figuren, so viele Szenenwechsel, so viele Worte… Ich habe sämtliche Werke von Dickens hier, außer jenen, die von den Ameisen zerfressen wurden. Es dauert lange, sie alle zu lesen – mehr als zwei Jahre.«
»Na ja«, sagte Henty leichthin, »bis dahin bin ich schon längst wieder fort.«
»Ah, das hoffe ich nicht. Es ist herrlich, wieder von vorne anzufangen. Jedes Mal entdecke ich etwas anderes, über das ich Freude und Bewunderung empfinde.«
Sie nahmen den ersten Band von Bleakhaus mit hinunter, und an diesem Nachmittag las Henty das erste Mal vor.
Es hatte ihm schon immer Spaß gemacht vorzulesen, und in den ersten Jahren seiner Ehe hatte er mehrere Bücher auf diese Weise gemeinsam mit seiner Frau genossen, bis sie eines Tages in einem Anfall
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